Mit 19 Jahren wusste John Irving, dass er Ringen und Romane schreiben wollte. In beiden Disziplinen feierte er grosse Erfolge. Nun erscheint nach eigenen Angaben der letzte grosse Roman des amerikanisch-kanadischen Bestsellerautors.
«Der letzte Sessellift» ist eine Familiensaga, deren Hauptfigur, ein Drehbuchautor, viele Ähnlichkeiten mit John Irving selbst aufweist. Ein angemessenes Vermächtnis?
Der Weg ist das Ziel
Das Ringen sei hilfreich fürs Schreiben, sagte Irving einmal im Interview: Man müsse täglich dranbleiben. Die Wiederholung sei essenziell, um etwas zu erreichen.
Der Prozess des Schreibens sei vergleichbar mit einem Drill beim Sport: Es gäbe dafür keinen Applaus und doch nimmt gerade dieser Prozess einen Grossteil des Lebens ein. Man müsse daher das Training lieben, nicht den Erfolg.
Irvings Aussage über das Ringen und Schreiben gilt auch für seinen neuen Roman: Wer sich durch das 1100 Seiten starke Buch ringt, wird belohnt – mit ausgefallenen und tiefgründigen Momenten im Leben des Protagonisten Adam Brewster und seiner Grossfamilie.
Ein Kuss, der alles verändert
Der Roman führt die Leserinnen und Leser unter anderem nach Exeter, New Hampshire, in den 1950er Jahren, wo Adam Brewster auf einen Schlüsselmoment seiner Kindheit zurückblickt. Der Ringer und Drehbuchautor ist damals 13 Jahre alt und bekommt den ersten richtigen Kuss – von seiner eigenen Mutter.
Wenn man dreizehn ist und die eigene Mutter gibt einem den ersten richtigen Kuss, dann sollte man darauf hoffen, dass jemand diesen Kuss wiederholen oder gar übertreffen kann – und zwar bald. Das ist dann die einzige Hoffnung.
Adams Mutter heisst Little Ray. Sie packt ihren Sohn, der das Ein und Alles der ehemaligen Profiskifahrerin ist, an den Schultern und zeigt ihm, wie ihr neuer Freund küsst. Es ist ein hemmungsloser Kuss, der Adam verwirrt und verstört. Ein Kuss, der zum Dreh- und Angelpunkt von Irvings Geschichte wird.
Eine unkonventionelle Familie
Adam hat früh von seiner Mutter gelernt, dass es nicht nur eine Art gibt, einen Menschen zu lieben. Er wächst umgeben von einer homoerotischen Dreiecks-Beziehung auf. Diese besteht aus Little Ray, ihrer lesbischen Freundin Molly und Little Rays Ehemann Elliot, der das Gender gewechselt hat.
Die drei betrügen einander nicht, lieben sich auf ihre eigene Weise. Doch die Gesellschaft stösst sich daran. Adam hat Angst, dass sich dieses prekäre Dreiecksverhältnis irgendwann auflösen könnte.
In dichten Handlungssträngen geht die Reise durch fünf weitere Jahrzehnte – von Exeter über New York bis nach Toronto. Sie spielen vor dem politischen Hintergrund der Aids-Krise unter Präsident Reagan und dem langsam aufkeimenden Hass und der Intoleranz gegenüber queeren Menschen.
Altbewährtes zum Abschluss
«Der letzte Sessellift» ist ein Buch, wie man es von John Irving kennt: mit wiederkehrenden Themen und Motiven und krassen Charakteren. Immer geht es um den Ringsport, homosexuelle Beziehungen und Familiengeheimnisse. Um die Abwesenheit des Vaters und im Kern ums Schreiben. Autobiografisches vermischt Irving gerne mit Fiktion.
In seinem letzten Roman führt uns Irving nahe an den Abgrund heran, auf den wir alle zusteuern. Er erzählt vom unaufhaltbaren und unerträglichen Verschwinden unserer Liebsten. Eine grosse Trauer ist in seinem Buch eingeschrieben – womöglich auch über seinen eigenen Abschied.