Immer wieder liest Roland den Zettel, den Alissa auf seinem Kopfkissen hinterlassen hat: Sie liebe ihn, werde ihn aber dennoch verlassen. «Ich habe das falsche Leben gelebt», schreibt sie.
Wie es sein kann, dass seine Frau ihn und das gemeinsame Baby schon nach zwei Jahren Ehe zurücklässt, versteht Roland erst langsam. Alissa hatte sich in genau jener Falle gefühlt, an der ihre eigene Mutter verbitterte. Auch diese wollte wie ihre Tochter Schriftstellerin werden, gab dieses Ziel zugunsten von Ehe und Kind aber auf.
Alte Wunden reissen auf
Roland fügt sich in die Rolle des alleinerziehenden Vaters, der mit Jobs sein Auskommen findet. Hat er das nicht schon immer getan, sich arrangiert? Ausgelöst durch Alissas Verschwinden steigt die Erinnerung an eine andere dramatische Zeit seines Lebens in ihm auf.
Als elfjähriger Internatsschüler in England war er von einer zehn Jahre älteren Klavierlehrerin sexuell animiert worden. Drei Jahre später begann er ein Verhältnis mit ihr. Erst vierzig Jahre später trägt ein Aussenstehender das Thema Missbrauch an Roland heran und ermutigt ihn zur Strafverfolgung.
Verstehen statt verurteilen
Die moralische Frage der Schuld spielt im Roman – und für Roland – durchaus eine Rolle. Er weicht den Konfrontationen nicht aus, weder mit der Mutter seines Sohnes noch mit der früheren Lehrerin.
Es ist allerdings eher Fatalismus als Wut, mit der Roland diese Zumutungen dennoch akzeptiert. Als sich abzeichnet, dass seine Ex-Frau tatsächlich eine überaus erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin haben wird, scheint das Verständnis den Schmerz zu überwiegen.
Distanzierter Blick auf die Welt
Der Grund für Rolands stille Akzeptanz könnte aber auch Schwäche sein. Er schaut auf sein Leben mit einer ähnlichen Mischung aus Distanz und Interesse, mit der er auch auf die Ereignisse der Weltgeschichte blickt, die sein Leben begleiteten.
Als Alissa ihn im April 1986 verliess, geschah Tschernobyl. Drei Jahre später begegnete er ihr in den Wirren des Mauerfalls in Berlin. Roland reflektiert über das Auf und Ab der Geschichte, der hochfliegenden Hoffnungen und bitteren Enttäuschungen, die ihn als alten Mann treffen.
Im Angesicht von Brexit und Corona, mit Blick auf Mauern, die von Jerusalem bis Mexiko überall wieder hochgezogen werden, fällt seine Bilanz nicht optimistisch aus.
Chronik eines Zeitgenossen
Ian McEwans Roman durchmisst die ganze Länge von Rolands Leben und damit die Zeitspanne seit 1948, als Roland – und auch Autor Ian McEwan – geboren wurde. «Lektionen» sei sein bisher persönlichstes Buch, sagte der Autor gegenüber der «Los Angeles Times».
Indem der Autor Rolands persönliches Leben mit den grossen Bewegungen der Zeitgeschichte verschränkt, relativiert er die Dramen in Rolands Biografie: Auch sie gehören in das schicksalhafte Auf und Ab des Lebens.
McEwans souverän erzählter, streckenweise ein wenig langatmiger Roman funktioniert am besten, wenn man ihn als Chronik eines Zeitgenossen liest. Lässt man sich aber tiefer auf die Krisen ein, gerade des sexuellen Missbrauchs, die Rolands Leben geprägt haben, dann vermisst man die gründliche Auseinandersetzung. Vieles wird letztendlich doch nur oberflächlich gestreift.