Altmeister Charles Lewinsky ist wohl der Schweizer Autor mit der breitesten Klaviatur an Ausdrucksformen: Drehbücher, Theaterstücke, Musicals, Erzählungen – und Romane.
Wie gekonnt er die Urform der Literatur beherrscht, beweist Lewinsky einmal mehr in «Sein Sohn». Das Buch erzählt die berührende Geschichte eines Waisenknaben, der ein Leben lang auf der Suche nach seinen Eltern ist.
Historische Figuren
Der Roman spielt, wie so oft bei Charles Lewinsky, in der Geschichte. Dieses Mal in der Zeit um 1800. Im Zentrum steht die Figur eines Knaben mit dem Namen Louis Chabos.
Die Figur ist historisch belegt. Aber über ihn ist nicht mehr bekannt, als dass seine Mutter eine einfache Köchin in Graubünden war. Sein Vater war kein Geringerer als der Herzog von Orléans.
Dieser sass zwischen 1830 und 1848 auf dem französischen Thron, als König Louis-Philippe I. – besser bekannt als «Bürgerkönig». Verbürgt ist zudem, dass der Knabe nach seiner Geburt 1794 in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde.
Fiktion trifft auf wahre Begebenheiten
Ausgehend von diesen wenigen gesicherten Fakten entwickelt Charles Lewinsky Louis Chabos' Lebensgeschichte. Sie ist fiktiv, orientiert sich jedoch immer wieder an realen Gegebenheiten und vermittelt dadurch plastische Einblicke in jene Epoche.
Lewinsky schildert in dem Roman die grosse Not in den Kinderheimen, die – oft überfüllt – von überforderten Geistlichen geführt wurden: «Die Mutter Oberin hatte für über 50 Kinder zu sorgen. Bei den älteren spielte einer mehr oder weniger keine Rolle. Machte man die Portionen halt ein bisschen kleiner. Aber die Säuglinge mussten gestillt werden. Heute kam schon wieder einer dazu.»
Abenteuerlicher Plot
Niemals verlässt Charles Lewinsky bei historischen Schilderungen das Gespür für das Mögliche. Auch dann nicht, wenn er mit spürbarer Lust am Fabulieren und rasanten sprachlichen Tempowechseln die Geschichte des Louis Chabos weitertreibt.
Zum Beispiel, wie er dem Heim irgendwann entkommt und später als Vagabund übers Land zieht. Oder als er im Gefängnis landet, flieht, sich als junger Mann beim französischen Militär meldet, mit Napoleons Grande Armée 1812 nach Russland zieht und dort die Gräuel des Kriegs erlebt: «Man hatte sie auf vieles vorbereitet. Auf den Pulverdampf. Den Lärm. Sogar auf die Toten. Vom Blutgestank hatte keiner etwas gesagt.»
Ein verstörendes Wiedersehen
Louis Chabos überlebt und kehrt zurück – allerdings zutiefst unglücklich. Psychologisch feinsinnig zeigt Charles Lewinsky, wie sehr es an der Seele des Protagonisten nagt, seine Abstammung nicht zu kennen. «Ich habe das Recht, zu erfahren, wer meine Eltern sind!» schreit er verzweifelt.
Getrieben von psychischem Schmerz zieht Louis Chabos nach Graubünden. Dort spürt er endlich seine Mutter auf. Doch die Begegnung ist verstörend.
Bleibt der Vater: Über verschlungene Wege erfährt Louis Chabos, dass dieser in der Zwischenzeit der König von Frankreich ist. Chabos hastet nach Paris, will den Vater treffen – und wird von Hofbeamten schmählich abgewiesen: «Ein bitterer Geschmack im Mund. Galle. Das machten der Zorn und die Enttäuschung.»
Louis Chabos fasst einen Plan. Er ist entsetzlich. Doch für uns Leserinnen und Leser nachvollziehbar. Denn Charles Lewinsky arbeitet die Beweggründe seiner Figur immer wieder behutsam heraus.
Er beteiligt uns über den ganzen Roman hinweg eng an diesem verzweifelten Kampf um die Herkunft – bis zum Schluss, und darüber hinaus. Denn die Geschichte von Louis Chabos hallt noch lange in uns nach.