In seinem fünften autobiografischen Roman «Anleitung ein anderer zu werden» zeichnet Édouard Louis seine Aufstiegsgeschichte nach – aus armen Verhältnissen im nordfranzösischen Dorf in die Pariser Bourgeoisie. Seine Bilanz: Der Aufstieg hat einen bitteren Nachgeschmack.
SRF: Warum wollten Sie sozial aufsteigen und «ein anderer werden»?
Édouard Louis: Ich hatte keine andere Wahl, als anders zu werden. Ich träumte davon, nicht anders zu sein – aber es waren die anderen, die mich als ‹anders› betrachteten. Sie sagten: «Du bist eine Schwuchtel, du bist nicht normal.»
Von da an hatte ich keine andere Wahl, als meine Andersartigkeit zu erfinden, da ich ohnehin nicht akzeptiert wurde. Im Grunde politisiere ich die Frage des Anderssein, indem ich meine Geschichte erzähle. Anderssein ist keine Geburtsbedingung, es ist ein Prozess, ein Werden.
Heute gehören Sie zu den gehobenen intellektuellen Kreisen von Paris. Müssen Sie manchmal eine Rolle spielen, um reinzupassen?
Zweifellos, denn: Wir spielen alle Rollen. Es gibt nichts Authentischeres, als eine Rolle zu spielen. Eine Rolle zu spielen, ist ein Weg, sich von dem loszureissen, was die Welt aus einem gemacht hat.
Ich erinnere mich, dass ich meinen Eltern zeigen wollte, dass ich klüger war als sie.
Es ist nicht in Stein gemeisselt, wie ein Mann oder eine Frau zu sein hat. Es gibt in der Gesellschaft nur bestimmte Arten der Nachahmung, die als legitim angesehen werden – und solche, die als illegitim angesehen werden.
Wenn Sie also beispielsweise aus einer einfachen Familie kommen und anfangen, wie eine Bürgerliche zu sprechen, wird man Ihnen sagen, dass Sie eine Rolle spielen, die nicht authentisch ist. Kinder aus der Bourgeoisie ahmen aber auch ihre Eltern nach.
Sie haben mit der Welt Ihrer Eltern gebrochen. Ist es möglich, die Herkunft hinter sich zu lassen?
Es ist nie komplett möglich. Ich habe aber immer Angst, das zu sagen. Denn ich möchte der Welt der Herrschenden kein Geschenk machen, indem ich ihnen sage: «Keine Sorge, auch wenn wir uns verändern, sind wir unglücklich.» Das bringt mich dazu, zu lügen und zu sagen: «Es ist ganz einfach, die Herkunft hinter sich zu lassen.»
Inwiefern ist das Buch eine Abrechnung mit ihrem früheren Milieu?
Ich erinnere mich, dass ich – wenn ich aus dem Internat ins Dorf zurückkehrte – meinen Eltern zeigen wollte, dass ich klüger war als sie. Ich freute mich über das Gefühl der Erniedrigung, das meine Eltern empfanden. Meine Mutter sagte: «Hör auf zu glauben, du seist was Besseres!» Sie hatte recht. Ich wollte angeben.
Damals hörte man immer Sätze wie «Literatur kann uns retten», aber das stimmt nicht. Im Gegenteil. Es gab eine extreme kulturelle Gewalt. Sprich: Wenn meine Mutter ein Buch sah, fühlte sie sich gedemütigt. Das Buch war ein Symbol für das Leben, das sie niemals haben würde.
Ich habe diese kulturelle Gewalt fortgeführt. Ich verurteile nicht den Teenager, der ich war. Ich konnte mich diesen Mechanismen nicht entziehen.
Heute schreiben Sie: «Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe». Hat der Aufstieg Sie nicht glücklich gemacht?
Als ich die erste Version des neuen Buchs fertig hatte, zeigte ich sie ein paar engen Freunden. Sie meinten, ich solle das letzte Kapitel herausnehmen. Darin frage ich, ob all die Veränderungen, die ich an mir selbst vorgenommen habe, mir das Glück gebracht haben, das ich mir als Kind erträumt hatte.
Ich schreibe meine Bücher nicht, um mich besser zu fühlen.
Habe ich dieses Glück wirklich gefunden? Ich bin mir nicht sicher. Es war mir wichtig, diese Frage zu stellen. Aber meine Freunde rieten mir davon ab – als ob ich als Klassenüberläufer kein Recht auf Melancholie hätte.
Das ist ungerecht. Wenn man aus einem privilegierten Umfeld kommt und seine Melancholie ausdrückt, findet das jeder charmant und poetisch. Wenn man aber aus einem einfachen Milieu kommt, gilt man als nie zufrieden.
Haben Sie sich mit Ihren Eltern versöhnt?
Das Kind, das ich war, hasste seinen Vater und seine Mutter. Schreiben bedeutet heute für mich, nicht mehr zu urteilen, sondern zu verstehen. Meine Eltern waren gefangen in einer bestimmten Sicht der Wirklichkeit.
Aber: Ich schreibe meine Bücher nicht, um mich besser zu fühlen. Ich schreibe Bücher, um universelle Fragen zu stellen. Die Beziehung zu meinem Vater oder meiner Mutter interessiert mich nicht – ich spreche sehr ungern darüber. Was mich interessiert, ist die Art und Weise, wie das Reden über diese Beziehungen dazu führt, dass man Dinge über Klassen, männliche Dominanz, Homophobie verstehen kann. Es ist diese Forschung, die ich durchzuführen versuche.
Das Gespräch führte Annette König.