Joël Dickers eigene Geschichte tönt wie ein Märchen. Ein mittelmässiger Jus-Student hat ein fast fertiges Manuskript in der Schublade. Er lernt den legendären Verleger Bernard de Fallois in Paris kennen. Der liest den Text und will ihn sofort herausbringen.
Ein paar Monate später sorgt «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» des jungen Romands international für Furore. Seither wird Dicker auf der ganzen Welt gelesen.
Ein ureigener Stil
Was Joël Dicker bislang auszeichnete, war sein unverwechselbarer Stil. Er spielt stets kühn mit literarischen Genres. Er springt unbekümmert zwischen den Zeitebenen, mixt Fakten und Fiktion und versteht es, das Publikum mit klassischen Page-Turner-Qualitäten zu fesseln.
Mit solchen Ingredienzen wartet er auch jetzt wieder auf. Trotzdem wird man nicht warm mit dieser Geschichte. Hat man sich zu sehr an das Setting an der amerikanischen Ostküste gewöhnt, dass Genf und Verbier als Schauplätze einfach abfallen?
Legen wir die Latte zu hoch, wenn wir von einem Genfer Autor erwarten, dass er uns die Privatbanken-Szene seiner Stadt anders zeichnet als nur mit abgedroschenen Klischees? Hat er in Liebesszenen schon früher erschreckend kitschige Formulierungen verwendet?
Ein literarisches Denkmal
Der Ich-Erzähler in «Das Geheimnis von Zimmer 622» ist Joël Dicker selbst. Nachdem ihn seine Freundin überraschend verlassen hat, reist er zur Erholung ins Hotel Palace nach Verbier.
Zudem betrauert er immer noch seinen Mentor und Verleger Bernard de Fallois. Als Andenken will er ihm nun sein nächstes Buch widmen. Es soll ein literarisches Denkmal für den legendären französischen Intellektuellen werden. Aber dann kommt alles ganz anders.
Kein Zimmer, ein Mord
Im Hotel Palace bezieht Joël Dicker das Zimmer 623. Mit Erstaunen stellt er fest, dass die Zimmernummer 622 fehlt und dieser Raum stattdessen mit der Zahl 621a. angeschrieben ist.
Zufällig kommt er abends auf dem Balkon mit seiner Zimmernachbarin Scarlett ins Gespräch. Beide beschliessen, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Bald erfahren sie, dass in diesem Zimmer 622 vor Jahren ein Mord geschehen ist, der nie aufgeklärt wurde.
Ihre Recherchen führen Dicker und Scarlett in die Vergangenheit und ins Schicksal einer traditionsreichen Privatbank, die immer noch in den Händen der Gründerfamilie liegt. Deren Tage als Firmeneigner sind allerdings gezählt, weil ein russischer Oligarch nach dem Vorsitz giert.
Es geht um Intrigen und Machtspiele, um viel Geld und heimliche Leidenschaften. Eine Geheimloge ist genauso Thema wie ein begnadeter Schauspieler und Hotel-Animator.
Es braucht Geduld
An originellen Ingredienzen für seine opulente Story fehlt es Dicker auch dieses Mal nicht. Als wären mit der Aufklärung des Verbrechens nicht schon genug Stränge gelegt, hält er an seinem ursprünglichen Projekt gleichwohl fest. Jedenfalls taucht auch sein Verleger Bernard de Fallois ab und zu zwischen den Kapiteln wieder auf.
Joël Dicker ist zugute zu halten, dass er das Publikum geschickt durch seine überladene Geschichte lotst, sodass man doch noch den Überblick behält.
Talent für Twists
Aber Dicker fordert von seinen Leserinnen und Leser viel Geduld. Erst etwa ab Seite 200 kommt die Story in Fahrt, die Spannung steigt und wir ahnen etwas von jener Raffinesse, die wir in «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» so geliebt haben.
Jetzt zeigt Dicker endlich sein sein Talent, uns immer wieder mit neuen Twists zu überraschen. Leider ist zu befürchten, dass viele «Das Geheimnis von Zimmer 622» schon weglegen, bevor sie bis zu seinen gewohnten Qualitäten vorstossen.
Es mag kein Zufall sein, dass Joël Dicker ins einem neuen Roman den Tod seines Mentors beklagt. Es scheint, als habe ihm genau so ein erfahrener und kritischer Lektor gefehlt