Für die Lektüre dieses Romans braucht es harte Bandagen. Die geschilderten Gewaltexzesse und seelischen Abgründe sind kaum auszuhalten. Wer sich dennoch auf das Buch einlässt, erlebt allerdings einen ungeheuer intensiven literarischen Text.
Geschrieben hat ihn der französische Schriftsteller und Prix-Goncourt-Träger Mathias Énard, der 2010 mit seinem Roman «Zone» auch im deutschsprachigen Raum seinen Durchbruch hatte. «Der perfekte Schuss» ist Énards Debütroman von 2003 und liegt nun erstmals auf Deutsch vor.
Vom «Schuss» zur «Zone»
Énards Romanerstling liest sich als Vorläuferwerk von «Zone». Beide Werke bestehen aus langen inneren Monologen von Menschen, deren Inneres von Krieg, Folter und hemmungsloser Gewalt zerstört ist.
In «Der perfekte Schuss» geht es um einen 18-jährigen Scharfschützen, der in einem nicht näher bezeichneten Krieg aus dem Hinterhalt Menschen umbringt: Soldaten, aber auch wahllos Zivilpersonen, Frauen, Männer, Kinder.
Die Freude am Schuss
Dies ist umso unerträglicher, als der Schütze das Töten frei von allen Gefühlen beschreibt und so tut, als wäre das Killen ein Kunsthandwerk: «Man muss den Atem anhalten, den Finger am Abzug in einer unmerklichen Bewegung leicht krümmen, sehr sanft, ohne jeden Druck.»
Wenn nach dem Schuss – Hunderte von Metern entfernt – das getroffene Opfer umfällt, sei es «die grösste Frustration für einen Schützen», dass er nicht vor Ort sein könne. Schliesslich möchte man doch «den Einschlag des Geschosses bewundern».
Grausam aktuell
Mit ungläubigem Staunen liest man Sätze wie diesen: «Das Schiessen ist wie eine sanfte Droge, man will immer mehr davon, immer schönere Treffer, immer schwierigere.» So also ticken Leute, die sich – kaum ist der Krieg ausgebrochen – in uniformierte Bestien verwandeln. Jene Leute, die ihre Waffe als Gesetz verstehen.
Die emotionslose Sprache, die Matias Énard seinem Protagonisten gibt, verstört. Aber sie leuchtet dorthin, wo Berichte über Kriege kaum hinkommen: in die kaputten Seelen derjenigen, die das Grauen an der Front bewerkstelligen. Die morden, foltern und vergewaltigen.
Gerade dies macht dieses Debüt so gnadenlos gegenwärtig. Mathias Énard entfaltet darin in vielem bereits jenes erzählerische Talent, das ihn in seinen späteren Romanen als grossen Romancier auszeichnet.
Albtraum mit Schwächen
Allerdings enthält das Buch auch Mängel. So bleiben die Figuren, die den Ich-Erzähler umgeben, blass. Sie sind blosse Statisten in seiner destruktiven Welt. Zudem irritiert, dass der ethisch auf den Hund Gekommene sich so sprachmächtig zeigt.
Erst spät – zu spät – erfährt man, dass er an der Universität studiert hat. Wie aber kommt es, dass sich mit dem Krieg alle Bildungsideale auf einen Schlag verflüchtigt haben?
Im Roman erzählt der Schütze lapidar, dass er ob der Schreie und Leichen anfangs «Albträume» und «Schweissausbrüche» gehabt habe: «Man weint allein in seinem Bett. Doch das geht vorüber.» Denn «glücklicherweise», meint er dann, «half mir das Schiessen, die Spannungen loszuwerden.»
Wie wird ein Mensch zur Bestie? Um diese Kernfrage mogelt sich Mathias Énard herum. Der Roman «Der perfekte Schuss» ist, bei all seiner Dringlichkeit, nicht ohne literarische Schwachstellen. Er ist deshalb auch nicht vorbehaltlos zu empfehlen. Abgesehen davon, dass man das, was er erzählt, erst einmal aushalten muss.