Peter Stamm spürt in seinen Büchern mit Vorliebe grossen Gefühlen nach – und den Geheimnissen des Lebens. Das macht er in einer reduzierten Sprache, die Alltäglichem Gewicht verleiht und mit einem Schreibverfahren, das die Grenze zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit verschwimmen lässt.
Diese Besonderheit zeigt sich bereits 1998 im ersten Satz seines viel gepriesenen Debütromans «Agnes»: «Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.»
Ein komplexer Text – mit Leichtigkeit niedergeschrieben
In seinem neuen autofiktionalen Roman «In einer dunkelblauen Stunde» treibt Peter Stamm sein methodisches Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit mit einer ungewohnten Leichtigkeit auf die Spitze.
Die Schlüsselfigur des Romans ist ein Schriftsteller, der wie Peter Stamm auf dem Land aufgewachsen ist, gerne in Paris weilt und in seinen Büchern wiederkehrend über eine unerfüllte Jugendliebe schreibt.
Was stimmt, was ist erfunden?
Die autobiografischen Fährten, die Peter Stamm in seinem neunten Roman auslegt, machen die vielschichtige Lektüre spannend. Was ist wahr, was erdichtet?
Auch wenn man nicht vom Text auf den Verfasser schliessen soll, wirkt es, als würde Peter Stamm zu uns sprechen. Dieses selbstreflexive Schreiben, das den ganzen Roman durchdringt, markiert eine Neuerung in Stamms Schaffen.
Starallüren eines Künstlers
Paris 2021: Im Roman dreht eine Filmemacherin mit ihrer Crew ein Künstlerporträt des bekannten Schweizer Schriftstellers Richard Wechsler. «Obwohl er immer so weltfremd tut, weiss er schon ziemlich gut, wie er vor der Kamera Wirkung erzeugen kann.»
Trotz seines Talents schmeisst Richard Wechsler den Bettel hin. Die gestellten Dreharbeiten an der Seine findet er unbefriedigend: Dieses autofiktionale Zeug, wozu soll das gut sein? Nie lüge man so schamlos, wie wenn man von sich selbst erzähle.
Auf dem Filmset in seinem Heimatdorf in der Schweiz taucht Wechsler erst gar nicht auf. Das Filmprojekt stirbt, zwei Jahre später auch der Protagonist. Doch Wechsler hat als Künstler und Mensch die Filmemacherin berührt. Sie wird zu seiner Biografin und schreibt seine – und ihre – Geschichte fort.
Ein Künstlerroman wie ein Filmprojekt
«In einer dunkelblauen Stunde» ist ein Künstlerroman, der formal stark an einen Doku-Fiction-Film erinnert.
Die Filmemacherin spricht in die Kamera, erzählt von ihrem gescheiterten Filmprojekt und von ihrer Begegnung mit Richard Wechsler. Schnitt: Nahaufnahme von Richard Wechsler, der durch Paris spaziert und über das Schreiben sinniert. Schnitt: Wieder die Filmemacherin, die vom Liebes-Aus mit Tom, ihrem Filmpartner, erzählt und assoziativ zu Richard Wechslers Jugendliebe rüber schwenkt. Schnitt.
Doch Peter Stamm wäre nicht Peter Stamm, wenn er es bei dieser filmischen Verschnitt-Technik belassen würde. Er belässt es auch nicht bei einer möglichen Leseart von vielen. Der Film scheitert, wie wir wissen. Doch die Filmemacherin erfindet sich neu, indem sie den Künstlerroman «In einer dunkelblauen Stunde» schreibt.
Damit wird die Figur der Filmemacherin am Ende selbst die Herrin über den Roman. Kann das sein? Genau das ist Peter Stamms Wechselspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit.