Ein namenloser Mann im mittleren Alter erzählt aus seinem Leben. Er lebt allein in seinem Elternhaus, ist Zeitungarchivar, hat schon vor einiger Zeit seine Stelle in einem Pressehaus verloren und führt sein Archiv zuhause weiter. Er sehnt sich immer noch nach seiner Jugendliebe, die eine Karriere als Schlagersängerin aufgebaut hat – seine Liebe zu ihr hat sich nie erfüllt.
Man riecht förmlich, wie es müffelt
Auf den ersten Blick ist der Ich-Erzähler eine klischierte Figur. Eine Figur, die einem nicht besonders nahekommt. Er wirkt oft egozentrisch: erinnert sich und bedauert, bleibt aber lange passiv, gefällt sich in diesem Verharren. Und er ist egoistisch, wenn er von Frauen erzählt, mit denen er Beziehungen hatte, die er aber nur benutzt hat. Seine Umgebung – sein Haus, seine Kleider – ist ungepflegt. Man riecht förmlich, wie es müffelt.
Das Zeitungsarchiv ist sein Lebensinhalt. In seiner überschaubaren und kontrollierten Ordnung gibt es ihm Sicherheit und Beständigkeit, bietet Schutz vor Veränderungen. Und vor unberechenbaren Gefühlen: «Meine Gefühle gehen niemanden etwas an. Meine Aufgabe ist das Sammeln und Ordnen.»
Trotzdem beschleicht ihn irgendwann die Ahnung, dass das Archiv das Leben nicht ersetzen kann, es die Realität – oder einen Teil davon – lediglich abbildet. Es ist ein Ort, an dem man das Leben nicht spürt.
Also katapultiert er sein Archiv in den Müll, kauft sich neue Kleider, fasst sich ein Herz und kontaktiert seine Jugendliebe, Franziska, die als Fabienne eine erfolgreiche Schlagersängerin geworden ist. In den Sequenzen mit Franziska/Fabienne zeigt sich eines von Stamms Markenzeichen: das Spiel mit Parallelwelten. Fiktion und Realität vermischen sich.
Bewährte Markenzeichen Stamms
Gespräche und Begegnungen der beiden werden so erzählt, dass man nie genau weiss, was sich nur in der Vorstellung des Ich-Erzählers abspielt. Das wirkt beim Lesen oft verwirrend – besonders dann, wenn sich innerhalb derselben Szene plötzlich die Zeit ändert –, lässt aber auch unterschiedliche Lesearten zu.
In Stamms neuem Roman findet man vieles aus seinen früheren Werken: die bereits erwähnte Verschmelzung von Fiktion und Realität, Jugenderinnerungen seiner Figuren, grosse Gefühle von damals, Lebenskrisen, gescheiterte Figuren, die neu beginnen.
Im aktuellen Buch ist die Entwicklung der Hauptfigur nicht immer nachvollziehbar. Schön ist aber, wie sie begründet wird. Der Ich-Erzähler sagt, er sei Zeit seines Lebens ein «Dabeiseiender» gewesen, einer, der immer nur gewollt habe, dass sich nichts verändert.
Vertraute Pfade verlassen
«Das Archiv der Gefühle» lässt viel Raum für Interpretationen. Man kann das Buch als Parodie eines gescheiterten Mannes lesen. Vielleicht ist es auch ein Plädoyer dafür, sein Leben auch in mittleren Jahren noch zu überdenken und allenfalls zu verändern, vielleicht ist es ein Plädoyer für mehr Achtsamkeit, vielleicht ist es eine Antwort auf die digitale Welt – und Peter Stamm zeigt, dass nichts die direkte Begegnung ersetzen kann, vielleicht ist es die Erkenntnis, dass man, um zu leben, vertraute Pfade verlassen muss.
Wie auch immer man Peter Stamms entschleunigenden Roman liest – es gibt eine Frage, die nach der Lektüre besonders nachhallt: Nachdem der Protagonist seine Stelle verloren hatte, zügelte er sein Archiv nach Hause. Damit sich in seinem Leben möglichst wenig änderte. Und die Leserin fragt sich: Wie weit bin ich zu gehen bereit – damit sich nichts ändert?