Er zählt jeden Morgen 30 Kürbiskerne und 45 Sonnenblumenkerne ab und verbietet seinen Kindern das Schulschwimmen – wegen des Chlors im Wasser. Der Vater im Roman der Schweizer Autorin Ursula Fricker, die schon lange in der Nähe von Berlin lebt, ist gelinde gesagt ein Spinner.
So fällt in «Gesund genug» denn auch das Wort Orthorexie, der Begriff für krankhaft gesundes Essen. Der Bogen ist aber viel weiter gespannt: Am Bett des Vaters, der ausgerechnet an Darmkrebs stirbt, zeichnet die erwachsene Tochter des Bild eines Menschen, der aus engsten Verhältnissen kommt, ein gutes Leben sucht und dabei in den Fanatismus abdriftet.
«Alle Welt wollte Alwin Tobler vergiften, insbesondere die Fleischlobby, die Zuckerlobby, die Pharmalobby, die Autolobby», heisst es im Roman. «Die Lösung? Verzichten. Auf alles. Für die Umwelt, für die Gesundheit. Für ein ewig langes Leben. Aber nicht nur das. (…) Man zieht eine Grenze, man errichtet eine Mauer. Die dort, wir hier. Man fühlt sich haushoch überlegen.»
Eine Familie als Mini-Sekte
In der Familie Tobler – Vater, Mutter, zwei Kinder – ging es zu und her wie in einer Vier-Personen-Sekte. Entsprechend lange brauchte die Tochter, bis sie sich freischwimmen konnte. Nur ungern kehrte sie ans Sterbebett des Vaters in einem Dorf in der Nähe von Schaffhausen zurück.
Schon in ihrem Erstling «Fliehende Wasser» von 2004 schrieb Fricker über einen Vater, der um die Gesundheit tanzte wie ums goldene Kalb. Allerdings war das Personal ein anderes und die Perspektive die eines kleinen Mädchens.
Geschichte mit wahrem Kern
Fricker macht keinen Hehl daraus, dass der Stoff autobiografisch ist. Sie griff das Thema in «Gesund genug» nochmals auf, weil sie es ungeheuerlich fand, dass ein Gesundheitsfanatiker ausgerechnet an Darmkrebs stirbt.
Vor allem aber wollte sie erkunden, was den Vater dazu gebracht hatte, sich mit solcher Vehemenz in einen gesunden Lebensstil zu verbeissen. Zudem fühlte sie sich – wie ihre Figur – durch gesellschaftliche Entwicklungen von der Vergangenheit eingeholt.
«Im Roman spielen die 90er-Jahre eine wichtige Rolle. Die Erzählerin hat sich in Berlin ein eigenes Leben aufgebaut und versucht normal zu werden, also zum Beispiel alles zu essen, worauf sie Lust hat», erklärt die Autorin.
Doch dann kommen Gesundheitsbewegungen wie der Vegetarismus in Mode: «Plötzlich fangen die Freudinnen und Freunde der Erzählerin an, in dieselbe Kerbe zu hauen wie ihr Vater und Essen als Abgrenzung zu nutzen. Sie sind besser, weil sie anders essen als andere. Diesem Mechanismus wollte ich nachgehen.»
Der Ess-Fanatismus schlägt zurück
«Gesund genug» ist ein zarter Roman, der unter der Oberfläche vor schrägem Witz und auch vor Wut nur so blubbert. Ein «krummgearbeiteter, fanatischer Mensch mit chronisch unbefriedigtem Geltungsbedürfnis» sei der Vater, denkt die Tochter einmal. Mit Befremden sieht sie, wie sein Fanatismus in den neuen Gesundheitsbewegungen aufersteht und mit dem Versprechen der Selbstoptimierung ähnliche Zwecke erfüllt.
«Gesund genug» umspannt die 1960er- bis 1990er-Jahre und ist dennoch aktuell. Nicht nur, dass das Thema der gesunden Lebens inzwischen weiteren Aufschwung erhielt. Wie nebenbei nimmt der Roman Fragen nach Lebensform, Lebenssinn und Orientierung auf, sowie nach den Möglichkeiten, die Welt im Privaten wie im Politischen zu verändern. Diese Themen behandelt das Buch mit berührender Dringlichkeit.