Hagard? Das Wort ist weder im Duden noch sonst in einem gängigen deutschen Wörterbuch zu finden; es taucht auch im Roman nicht auf, nur im Titel. Im Gespräch verrät der Schriftsteller Lukas Bärfuss, Hagard sei ein Fachwort aus der Jägersprache. Gemeint sind wild gefangene Falken, die abgerichtet werden, aber sich nie ganz zähmen lassen.
Ums Jagen, Verfolgen und ums Ungezähmte geht es im Roman «Hagard». Der Erzähler jagt darin einer Geschichte nach, die er nie ganz zu fassen bekommt, und die Hauptfigur dieser Geschichte, ein grundsolider Endvierziger, lässt plötzlich alles liegen, verfolgt stattdessen wie im Rausch eine unbekannte Frau.
Der Mann, Liegenschaftsentwickler von Beruf, schwänzt seine geschäftlichen Meetings, entzieht sich einer Gesellschaft, die sich wie auf einer Rolltreppe nur gleichmässig, aber ohne Zukunftsglaube fortbewegt.
In einer Schwellenzeit
Nichts hält den Mann von seinem Vorhaben ab. Er, der sonst minütlich in sein Handy starrt, nimmt plötzlich hin, dass der Akku sich bedrohlich leert. Seine Geldbörse kommt ihm ebenso abhanden wie einer seiner Schuhe. Trotzdem hoppelt er der fremden Frau hinterher, ohne ihr Gesicht zu kennen. Folgt er einem Trieb, einer Stalker-Obsession? Oder möchte er einfach nur aus seinem monotonen Alltag verschwinden?
Viele Dinge in diesem Buch scheinen willkürlich zu passieren. Wir wissen nie, was als nächstes kommt. Mit andern Worten. Es ist ein ungemein spannender Roman. Alle Optionen sind offen. Fest steht nur, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Wir sind in eine «Schwellenzeit» getreten, so Lukas Bärfuss, deren Ende, wann immer es uns treffen mag, nur eines bedeuten kann: den «Untergang der Welt wie wir sie kannten».
Wer ist pervers?
Das klingt pessimistisch, ist aber das Gegenteil: Bärfuss liefert ein faszinierendes literarisches Plädoyer für «Übertretungen» aller Art. Also für kleine, vielleicht riskante oder gar verbotene Schritte ins Unbekannte, weg vom Konformen. Nur so kann man offen für Neues bleiben.
Der Held in Hagard fällt völlig aus dem Trott des Gewohnten. Das wird einerseits als unheilvoll geschildert, aber auch als positiv. So übermüdet, verschlissen, hungrig er ist, nimmt er nun seine Umgebung wacher und schärfer wahr als zuvor.
Lukas Bärfuss liefert ein bedenkenswertes Porträt unserer Gesellschaft, die sich von technischen Errungenschaften wie dem Handy abhängig gemacht hat. Fehlen die Geräte, sind die Menschen «abgeschnitten von der Welt, stumm und taub und getrennt von den anderen und gänzlich hilflos».
Der Siegeszug der Technik führt dazu, dass wir uns kaum noch trauen, über den eigenen Schatten zu springen. Es ist am Schluss des Buches nicht mehr klar, wer «perverser» ist, der Held, der einer wildfremden Frau folgt, oder die Gesellschaft, die alle Geschehnisse nur noch lustlos und gemässigt bis zur Gleichgültigkeit und Ignoranz verfolgt.
Sendehinweis:
- Radio SRF2 Kultur, Kultur kompakt am 24.2.2017 um 17:08 Uhr
- Radio SRF2 Kultur, 52 Beste Bücher am 12.3.2017 von 11.00 bis 12.00 Uhr