Einen Vielschreiber kann man Reto Hänny wahrlich nicht nennen. Das letzte Buch liegt schon sechs Jahre zurück. Zuvor gab es noch längere Unterbrüche.
Böse Zungen behaupten zudem, Hänny schreibe stets das gleiche Buch. Aber in seinen Ohren klingt das nicht böse: Er ist nun mal ein Autor, der immer wieder von denselben Stoffen heimgesucht wird.
Flug und Sturz
So ist es auch beim neuen Buch «Sturz». Im Untertitel nennt er es «Das dritte Buch vom Flug». Tatsächlich hat er bereits 1985 «Flug» veröffentlicht und dieses Werk 2007 in einer sprachlich radikalisierten Fassung erneut herausgebracht. Nun hat er also das «Flug»-Buch zum dritten Mal geschrieben.
Inzwischen ist es um das Doppelte angewachsen: auf einen Umfang von 600 Seiten. Herausgekommen ist eine Summa des 72-Jährigen. Eine radikale Ausschöpfung all dessen, was Literatur vermag.
Es ist nicht so, dass Hännys drittes Buch vom Flug pessimistischer wäre, nur weil es nun «Sturz» heisst und damit ja die schlimmstmögliche Wendung des Fliegens betont. Er will damit alles andere als Weltuntergangsstimmung verbreiten.
Sätze, die abheben
Flug und Sturz sind die beiden Pole, zwischen denen sich der Schriftsteller Reto Hänny seit je bewegt. Ihm geht es darum, Sätze mit so viel Schub zu schreiben, dass sie abheben und sich endlos in der Luft halten. Nicht von ungefähr wird er in den Medien als Autor herumgeboten, der die längsten Sätze der Schweizer Literatur schreibt.
Schon als Bub, während er in seiner Bündner Heimat Ziegen hütete, sah er den Dohlen fasziniert beim Fliegen zu. Sein kindliches Alter Ego im neuen Buch glaubt ebenfalls fliegen zu können, lernt aber bald auch das Abstürzen kennen: Er wird als Bauerntotsch gehänselt, leidet unter Legasthenie.
Ein Lehrer rät dem Teenager, viel zu lesen, um seine Leseschwäche zu korrigieren, und zwar nicht Karl May, sondern James Joyce, Franz Kafka und Günter Grass. Mit diesen grossen Geistern lernt er fliegen. Und Hännys Dichterflüge sind besonders kühn, wenn er sie dem Scheitern oder Abstürzen abtrotzt.
Literatur aus Literatur
Wie das «Porträt des Künstlers als junger Mann» seines Vorbilds Joyce lässt sich auch Hännys «Sturz» als Buch eines angehenden Künstlers lesen, der neben der Literatur auch die Musik von Bartók bis zum Free Jazz für sich entdeckt.
Das geschieht aber nicht chronologisch oder autobiografisch, sondern in ungestümen Assoziationen, Erinnerungs- und Traumfetzen, Erfindungen und nicht zuletzt in Pasticci, in denen Hänny sich fremde Stoffe der Weltliteratur aneignet.
Literatur entsteht für ihn aus Literatur. Und um Autor zu werden, empfiehlt er kein Studium in einem Literaturinstitut, sondern das leidenschaftliche Hören von Musik und das genaue Lesen von Literatur.