In seiner Dystopie «Neverend» erforscht der slowenische Lyriker und Romancier Aleš Šteger eines der grossen Themen auch der Literatur: den Krieg. Sein Roman ist poetisch, analytisch und persönlich zugleich. Im Interview erklärt der Autor, warum er allerdings nie realistisch über so etwas Schreckliches wie den Krieg schreiben könne.
SRF: «Neverend» liest sich an vielen Stellen wie ein Spiegel des Ukraine-Kriegs. Geschrieben haben Sie den Roman aber schon vor einigen Jahren. Was gab damals den Anstoss dazu?
Aleš Šteger: Es begann mit den jugoslawischen Kriegen. In Slowenien selbst war der Krieg 1991 zwar nach zehn Tagen vorbei. Aber in unmittelbarer Nähe ging er jahrelang weiter, mit den schlimmsten Geschichten, die man sich vorstellen kann. Diese verflochten sich auch mit Familien- und Flüchtlingsgeschichten.
Es war also mein Krieg und zugleich nicht mein Krieg. Ich fand, zuerst müssten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den betroffenen Ländern davon erzählen. Aber auch lange nach dem Friedensabkommen von Dayton war ich nicht in der Lage, über den Krieg zu schreiben.
Schliesslich bat eine serbische Tageszeitung ex-jugoslawische Autorinnen und Autoren um Kurzgeschichten zum Thema. Ich schrieb eine und konnte dann zwei Jahre lang nicht mehr aufhören.
Ich hätte nicht realistisch über so etwas Schreckliches schreiben können.
«Neverend» ist kein realistisch erzählter Roman, sondern eine Dystopie. Was hat Sie an dieser Form interessiert?
Bei einer Dystopie geht es um die Geste des Verzerrens. Damit geht es auch um die Frage, warum und in welche Richtung man verzerrt und was sich aus der Kluft ergibt, die durch die Verzerrung entsteht.
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Ich hätte nicht realistisch über etwas so Schreckliches wie Krieg schreiben können, wo es doch die Erinnerungsprosa zum Beispiel Primo Levis, Warlam Schalamows oder des Slowenen Boris Pahor gibt, die ein Leben lang um eine Sprache für ihre Zeugenschaft rangen.
Aber die dystopische Verzerrung ermöglichte es mir, eigene Vorstellungen und Erfahrungen heranzuziehen. Die Voraussetzung war allerdings eine sehr genaue Lauschmethode. Nur so konnte ich meinen Ängsten, Regungen, Prägungen so offen wie möglich folgen.
«Neverend» ist sehr nahe an der Realität. Vieles wird allerdings nicht auserzählt. Warum?
Weil ich finde, dass auch im Leben meist vieles offenbleibt. Mir ging es darum, dass Schlussfolgerungen oft unmöglich sind. Trotzdem heisst es nach Krisensituationen häufig: «Es war so und so und nicht anders.»
Wir schneidern uns also Erklärungen zurecht und versuchen dann, an sie zu glauben. Aber wir können es nur halb und bleiben irgendwo dazwischen stecken. Das ist vermutlich ein Prozess, der nie endet – ein Neverend-Prozess.
Ihr Roman ist auch ein Buch darüber, dass Kriege ständig wiederkehren. Wie könnte die Literatur einen Keil in dieses «Neverend» treiben?
Das verlangt von der Literatur sehr viel. Ich glaube, ihre Kraft liegt im Individuellen. Und wir wissen ja, wer liest, und dass die meisten Menschen nicht lesen
Wenn ich eine utopische Wunschvorstellung haben dürfte, dann diese, dass Literatur etwas Transformatives ist. Dass sie zusammen mit den Leserinnen und Lesern einen Raum erschafft, wo wir uns wirklich hinterfragen können und wo wir in gewisser Weise unsere Denkweisen und damit unsere Leben korrigieren können.