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Frau mit hellblonden Haaren und Kopfuch.
Legende: Polina Scherebzowa lebt auch in Finnland nicht ganz sicher. Maiju Torvinen

Literatur «Nie im Leben möchte ich nach Russland zurückkehren»

Die 30-jährige russische Autorin Polina Scherebzowa erzählt in «Polinas Tagebuch», wie sie als Kind in Grosny die Gräuel der Tschetschenienkriege erlebte. Nach der Publikation in Russland wurde sie massiv bedroht. Sie musste fliehen. Im Interview erzählt sie von ihrem Leben im Exil in Finnland.

Polina Scherebzowa, wie sicher fühlen Sie sich heute?

Mir geht es gut. Ich bin zwar auch hier schon bedroht worden, aber die finnische Polizei arbeitet gut. Ich arbeite sehr viel. In Russland habe ich Journalistik studiert, nun absolviere ich ein Zweitstudium. Zudem arbeite ich an meinem fünften Buch. Nach meinem Debüt, dem Tagebuch, kommen in diesem und im nächsten Jahr Buch zwei und drei heraus.

Polina Scherebzowas Tagebuch

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Die 1985 in Grosny geborene Polina Scherebzowa war neun Jahre alt, als in Tschetschenien der Krieg ausbrach. Kurz zuvor hatte sie begonnen, Tagebuch zu führen. Es geriet zur erschütternden Chronik einer Kindheit im Krieg. Nach der Veröffentlichung in Russland 2011 floh die Autorin nach Finnland. Im Frühling 2015 erschien das Tagebuch auf Deutsch.

In Ihrem Tagebuch, das die Jahre von 1994 bis 2002 umfasst, schildern Sie ihre Kindheit und Jugend in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Mit ungeschminkter Sprache dokumentieren Sie das Leiden der Zivilbevölkerung. Nach der Veröffentlichung in Russland 2011 beantragten Sie in Finnland Asyl. Was ist geschehen?

Ich lebte damals nicht mehr in Tschetschenien, sondern – zusammen mit meinem Mann – in Moskau. Nach der Veröffentlichung des Tagebuchs wurde es für uns sehr gefährlich. Es gab Mordanschläge und Überfälle.

Was wissen Sie über die Täter?

Es müssen Leute vom Geheimdienst gewesen sein. Es gab anonyme Anrufe auf mein Handy. Ich wurde bedroht. Wir baten beim Amt um Hilfe, die Anrufer zu identifizieren. Aber die Inhaber der Nummern wurden uns nie bekannt gegeben. Daneben wurden wir aber auch Opfer von körperlicher Gewalt. Die Täter waren russische Nationalisten, denen es nicht passte, dass ich über die Verbrechen der russischen Streitkräfte in Grosny berichtete, wo ich all die Jahre wie durch ein Wunder überlebte, ohne den Verstand zu verlieren.

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Auszug aus dem Buch «Polinas Tagebuch» 1
00:52 min
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Wie erklären Sie sich die Angriffe?

Mein Tagebuch strafte die offizielle Propaganda Lügen, wonach Russland in Tschetschenien lediglich gezielt gegen feindliche Kämpfer und Terroristen vorgegangen sei. In meinem Tagebuch erzähle ich aus erster Hand, dass die Russen in Tat und Wahrheit Kindergärten und Wohngebiete bombardierten und Menschen verschiedener Nationalitäten töteten, die damals dort lebten: Tschetscheninnen und Tschetschenen, Russen, Ukrainer, Bulgaren, Inguschen, Russen, Armenier, Fahrende.

Buchhinweis

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Polina Scherebzowa: «Polinas Tagebuch», Rowohlt, 2015.

Sie tragen einen russischen Familiennamen. Machte Sie dies in besonderem Masse zur Zielscheibe?

Vermutlich schon. Mein Vater hatte tschetschenisch-jüdische Wurzeln, meine Mutter russische. Ich habe von meiner Abstammung her also sowohl russische als auch kaukasische und jüdische Wurzeln. Wenn ich – ethnisch gesehen – ausschliesslich Tschetschenien gewesen wäre, dann hätte man mein Tagebuch in Russland als Propaganda-Machwerk der Tschetschenen abtun können. Bei mir aber funktionierte dies nicht.

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Auszug aus dem Buch «Polinas Tagebuch» 2
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Was gab Ihnen die Kraft, sich nicht einschüchtern zu lassen?

Tatsächlich rieten mir in Moskau einige meiner Bekannten, die Sache auf sich beruhen zu lassen und zu schweigen. Ich fühlte mich aber verpflichtet für alle jene zu sprechen, die dies nicht mehr konnten, weil sie unter ganz furchtbaren Umständen ums Leben gekommen waren. Ich wollte Chronistin sein und der Welt sagen, was tatsächlich geschehen ist.

Wie sehr wünschen Sie es sich, irgendwann nach Russland zurückzukehren?

Nie im Leben möchte ich nach Russland zurückkehren. Finnland ist jetzt meine Heimat. In Russland fühlte ich mich nie zu Hause. Als Kind war Tschetschenien meine Heimat, bis die Erwachsenen begannen, dort Blut zu vergiessen. Mein Eindruck ist, dass sich heute Russland mit Riesenschritten einer Politik annähert, die an diejenige des Dritten Reichs erinnert.

Haben Sie Hoffnung, dass sich die russische Politik ändert?

Derzeit ist Krieg in der Ukraine, vorher in Georgien, und noch vorher bei uns in Tschetschenien. Niemand scheint aus den Fehlern der Vergangenheit etwas zu lernen. Das ist das Schlimmste. Russland beansprucht heute Gebiete des Nachbarlandes. Und nun wiederholt sich in der Ukraine die Tragödie, die ich in Tschetschenien erlebt habe. Das menschliche Leben ist nichts wert. Ich habe – ehrlich gesagt – keinerlei Hoffnung, dass sich daran etwas ändert.

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