Diesmal hat die Schwedische Akademie – anders als in den vergangenen Jahren – auf eine Überraschung verzichtet. Mit der 82-jährigen Französin Annie Ernaux erhält eine Schriftstellerin den Literaturnobelpreis, die schon lange als Favoritin gehandelt wurde.
Die Preisträgerin selbst hatte offenbar nicht damit gerechnet. Jedenfalls war sie am Vormittag telefonisch nicht erreichbar. Als Ernaux' Name um 13 Uhr in Stockholm verkündet wurde, musste der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, erklären: «Wir haben es noch nicht geschafft, Annie Ernaux telefonisch zu erreichen.»
Agenturberichten zufolge erfuhr Ernaux erst später, durch den Anruf von Journalisten, davon: «Nein! Wirklich?», soll sie gesagt haben. «Ich habe den ganzen Morgen gearbeitet.»
Am Anfang war das Schweigen
Annie Ernaux kam 1940 in Lillebonne in der Normandie zur Welt. Sie wuchs in ärmlichen, katholischen Verhältnissen auf. In ihrer Familie habe man sich nichts zu sagen gehabt. Wahrscheinlich habe sie deshalb zu schreiben begonnen, sagte die Autorin einmal gegenüber der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit».
Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete Ernaux als Gymnasiallehrerin und Dozentin. Nebenher schrieb sie. 1974 erschien ihr erster Roman «Les armoires vides». 1980 liess sie sich scheiden. Zwei Kinder waren aus der Ehe hervorgegangen. 1984 erschien mit «La Place» der Roman, für den sie den renommierten Renaudot-Preis erhielt.
Chronik der Katastrophen
Zu ihren erfolgreichsten Büchern gehört «Les années», zu Deutsch «Die Jahre». Das Buch ist eine persönliche Chronik der Nachkriegsjahre. Auch in den später folgenden Titeln behandelt sie zum Teil dramatische, persönliche Erlebnisse.
In «Das Ereignis» etwa blickt sie zurück auf eine Abtreibung in den 1960er-Jahren. Und in «Die Scham» geht es darum, wie ihr Vater einst versucht hat, ihre Mutter umzubringen. Ernaux war damals, mit zwölf, Zeugin dieses Mordversuchs.
Annie Ernaux bezeichnet sich als «Ethnologin ihrer selbst». Für ihre Texte gräbt sie tief in ihren Erinnerungen. Sie schreibt sachlich, nüchtern, faktenbasiert. Kühle Berichte aus einem langen Leben im Kleinbürgertum.
In Frankreich, wo lange Zeit allein die Pariser Elite den literarischen Ton angab, waren Annie Ernaux' Bücher zunächst etwas ganz Neues – und eine Provokation.
Das sagt die Jury
Wie die Schwedische Akademie mitteilt, erhalte Ernaux den Nobelpreis für ihren «Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt».
Sie glaube an die Macht des Schreibens, offenbare die Qual der Klassenerfahrung und beschreibe unter anderem Scham, Demütigung und Eifersucht.
Eine gute Entscheidung
Autofiktion gilt derzeit als einer der grössten Trends in der Literatur. Mit ihrer Technik, eigene Erlebnisse literarisch zu bearbeiten, hat Annie Ernaux zahlreiche Autorinnen und Autoren inspiriert.
Die Entscheidung, Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur zuzuerkennen, ist eine sehr gute Entscheidung. Es ist eine Entscheidung für das Sichtbarmachen weiblicher Erfahrungswelten. Und vor allem ist es eine Entscheidung allein für die Literatur. Denn von sämtlichen politischen Forderungen, etwa eine ukrainische Schriftstellerin zu küren, hat sich die Schwedische Akademie damit freigemacht.
Mit Material der Agenturen.