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Literaturredaktorin Franziska Hirsbrunner über den Literaturnobelpreis an Annie Ernaux
Aus Kultur-Aktualität vom 06.10.2022. Bild: Getty Images / Leonardo Cendamo / Kontributor
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Nobelpreis an Annie Ernaux Überrascht war nur sie: Begründerin der Autofiktion geehrt

Mit Annie Ernaux geht der wichtigste Literaturpreis der Welt an die Begründerin der Autofiktion. Eine gute Entscheidung für die Literatur.

Diesmal hat die Schwedische Akademie – anders als in den vergangenen Jahren – auf eine Überraschung verzichtet. Mit der 82-jährigen Französin Annie Ernaux erhält eine Schriftstellerin den Literaturnobelpreis, die schon lange als Favoritin gehandelt wurde.

Die Preisträgerin selbst hatte offenbar nicht damit gerechnet. Jedenfalls war sie am Vormittag telefonisch nicht erreichbar. Als Ernaux' Name um 13 Uhr in Stockholm verkündet wurde, musste der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, erklären: «Wir haben es noch nicht geschafft, Annie Ernaux telefonisch zu erreichen.»

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Französin Annie Ernaux erhält Nobelpreis für Literatur
Aus Tagesschau vom 06.10.2022.
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Agenturberichten zufolge erfuhr Ernaux erst später, durch den Anruf von Journalisten, davon: «Nein! Wirklich?», soll sie gesagt haben. «Ich habe den ganzen Morgen gearbeitet.»

Am Anfang war das Schweigen

Annie Ernaux kam 1940 in Lillebonne in der Normandie zur Welt. Sie wuchs in ärmlichen, katholischen Verhältnissen auf. In ihrer Familie habe man sich nichts zu sagen gehabt. Wahrscheinlich habe sie deshalb zu schreiben begonnen, sagte die Autorin einmal gegenüber der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit».

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Kultur-Talk zum Literaturnobelpreis 2022
aus Kultur-Talk vom 07.10.2022. Bild: Getty Images / Leonardo Cendamo
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 Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete Ernaux als Gymnasiallehrerin und Dozentin. Nebenher schrieb sie. 1974 erschien ihr erster Roman «Les armoires vides». 1980 liess sie sich scheiden. Zwei Kinder waren aus der Ehe hervorgegangen. 1984 erschien mit «La Place» der Roman, für den sie den renommierten Renaudot-Preis erhielt.

Chronik der Katastrophen 

Zu ihren erfolgreichsten Büchern gehört «Les années», zu Deutsch «Die Jahre». Das Buch ist eine persönliche Chronik der Nachkriegsjahre. Auch in den später folgenden Titeln behandelt sie zum Teil dramatische, persönliche Erlebnisse.

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Literaturnobelpreis an Annie Ernaux
aus Echo der Zeit vom 06.10.2022. Bild: KEYSTONE/ CATI CLADERA
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In «Das Ereignis» etwa blickt sie zurück auf eine Abtreibung in den 1960er-Jahren. Und in «Die Scham» geht es darum, wie ihr Vater einst versucht hat, ihre Mutter umzubringen. Ernaux war damals, mit zwölf, Zeugin dieses Mordversuchs.

Annie Ernaux bezeichnet sich als «Ethnologin ihrer selbst». Für ihre Texte gräbt sie tief in ihren Erinnerungen. Sie schreibt sachlich, nüchtern, faktenbasiert. Kühle Berichte aus einem langen Leben im Kleinbürgertum.

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Aus dem Archiv: «Das Ereignis» von Annie Ernaux
Aus Literaturclub vom 01.02.2022.
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In Frankreich, wo lange Zeit allein die Pariser Elite den literarischen Ton angab, waren Annie Ernaux' Bücher zunächst etwas ganz Neues – und eine Provokation.

Das sagt die Jury

Wie die Schwedische Akademie mitteilt, erhalte Ernaux den Nobelpreis für ihren «Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt».

Annie Ernaux' Werke

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Annie Ernaux hat bislang 20 Romane geschrieben. Noch wurden nicht alle übersetzt. Sieben sind aber bereits auf Deutsch erschienen, darunter «Die Jahre», «Erinnerungen eines Mädchens», «Die Scham» und «Das Ereignis».

Für alle Bücher seien nun Neuauflagen geplant, teilt der Suhrkamp-Verlag mit. In diesen Tagen erscheint zudem erstmals auf Deutsch: «Das andere Mädchen», ein Brief an ihre Schwester, die starb, bevor Annie Ernaux zur Welt kam.

Sie glaube an die Macht des Schreibens, offenbare die Qual der Klassenerfahrung und beschreibe unter anderem Scham, Demütigung und Eifersucht.

Eine gute Entscheidung

Autofiktion gilt derzeit als einer der grössten Trends in der Literatur. Mit ihrer Technik, eigene Erlebnisse literarisch zu bearbeiten, hat Annie Ernaux zahlreiche Autorinnen und Autoren inspiriert.

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Aus dem Archiv: «Erinnerung eines Mädchens» von Annie Ernaux
Aus Literaturclub vom 13.11.2018.
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Die Entscheidung, Annie Ernaux den Nobelpreis für Literatur zuzuerkennen, ist eine sehr gute Entscheidung. Es ist eine Entscheidung für das Sichtbarmachen weiblicher Erfahrungswelten. Und vor allem ist es eine Entscheidung allein für die Literatur. Denn von sämtlichen politischen Forderungen, etwa eine ukrainische Schriftstellerin zu küren, hat sich die Schwedische Akademie damit freigemacht.

Mit Material der Agenturen.

SRF 4 News, 6.10.2022, 14:00 Uhr

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