Damit hat wohl niemand gerechnet: Nach den Skandalen der letzten Jahre geht der Literaturnobelpreis dieses Jahr an eine 77-jährige amerikanische Dichterin und Essayistin, die kaum jemand auf dem Radar hatte.
Auch Louise Glück selbst hat diese Auszeichnung nicht erwartet. Als das Telefon frühmorgens in Massachusetts klingelte, ahnte die Lyrikerin nicht, dass sie die Schwedische Akademie am Hörer hat.
Entscheid mit Tradition
Aber die Entscheidung steht durchaus in einer Tradition. Schon 2011 gewann mit dem Schweden Tomas Tranströmer ein Dichter, den nur Eingeweihte kannten.
In der amerikanischen Lyrikgemeinde ist Louise Glück jedoch keine Unbekannte. Sie wurde regelrecht mit Preisen überhäuft, 1993 erhielt sie für ihr Werk «Wilde Iris» den Pulitzer-Preis. 2003 ernannte man sie für ein Jahr zur Poet Laureate, ein in den USA sehr prestigeträchtiges Amt.
Die Schwedische Akademie begründet ihren Entscheid damit, dass mit Louise Glück die amerikanische Lyrik um eine «einzigartige poetische Stimme» bereichert werde, «die mit herber Schönheit die individuelle Existenz universell ausleuchtet.»
Brachiale Bilder und Beichten
In ihrem Werk setzt sich Louis Glück häufig mit schweren Themen wie Einsamkeit, Scheidung und Tod auseinander und verarbeitet verschiedene Traumata. Sie schreibt über gescheiterte Affären oder familiäre Konflikte.
Fast schon wie eine Beichte wirken manche ihrer Gedichte. Sie schreckt nicht vor brachialen Bildern zurück, beschreibt etwa, wie Kinder in einem Teich ertrinken.
Gegen die grossen Erzähler?
Dass Louise Glück einen Hang zu dunklen Themen hat, ist kein Zufall: Als Jugendliche litt sie unter starker Magersucht und unterzog sich einer langjährigen Psychoanalyse, die ihr Denken und Schreiben prägte. Als bereits renommierte Dichterin verlor sie bei einem Hausbrand ihren gesamten Besitz.
Man kann den Entscheid der Schwedischen Akademie für die eher dunkle, zarte Lyrik von Louise Glück auch als Affront gegen die grossen Amerikaner wie Colson Whitehead oder Don DeLillo lesen.
Sie sorgten mit ihren gesellschaftskritischen Romanen für Furore und werden nun einmal mehr übergangen, wie seinerzeit schon die inzwischen verstorbenen US-Giganten Philip Roth und John Updike.
Erstaunlich ist zudem, dass sich die Akademie vier Jahre nach dem Nobelpreis für Bob Dylan erneut für jemanden aus den USA entschieden hat und nicht für eine Autorin aus Afrika, Südamerika oder Asien.