«Tanner richtet sich auf, schaut über sein Land. (…) Und da, gleich neben dem Baum, steigt Dampf auf, als schnaufe ein Tier Atemwolken aus. (…) Das kann doch nicht – (…) Es ist nichts, da ist nichts. Aber genau das ist es: dass da nichts ist.»
So beschreibt Lukas Maisel in seiner aktuellen Novelle «Tanners Erde» jenen Moment, der das Leben seiner Hauptfigur, des Landwirts Ernst Tanner, für immer verändert: Auf seinem Land hat sich ein gigantisches Loch geöffnet, über Nacht. Bald darauf folgt ein zweites.
Schwarze Vorboten
Die Löcher haben etwa sechs Meter Durchmesser. Sie sind so tief, dass Tanner den Grund von oben nicht erkennen kann: «Sein Blick fällt in die Schwärze. An diese Dunkelheit gewöhnen seine Augen sich nicht. (…) Fäulnis haucht ihn an.»
Der Geruch der Verwesung ist der Vorbote des Unheils, das nun auf Tanner wartet. Sein karg-beschauliches Leben wird auf den Kopf gestellt und in einer Katastrophe münden.
Gelungenes zweites Buch
«Tanners Erde» ist Lukas Maisels zweites literarisches Werk. Sein von Kritikerinnen und Kritikern gelobter Debütroman «Buch der geträumten Inseln» erschien vor zwei Jahren.
Nun stellt Lukas Maisel erneut unter Beweis, über welch literarisches Talent er verfügt: «Tanners Erde» ist streng komponiert. Die Handlung führt – getreu der klassischen Form der Novelle – geradlinig auf das Finale zu.
Die Sprache ist karg und präzise. Jedes Wort sitzt. Keines ist zu viel. Das sprachlich Archaische dieser Novelle passt zur Hauptfigur: Tanner ist ein einfacher Mann, kräftig, verschlossen, keiner, der viele Worte verliert.
Doch hinter der harten Schale ist Tanner voller Fürsorge. Für seine Milchkühe. Für seine Frau Marie, auch wenn er ihr seine Liebe nicht offen zeigen kann. Er würde sie gerne küssen, «aber das geht nicht, (…) sie würd erschrecken und fragen, was denn los ist.»
Moderner Hiob
Dann tauchen plötzlich diese Erdlöcher auf. Sie bescheren dem Bauern ein Los, das an dasjenige des leidgeprüften Hiobs im Alten Testament erinnert.
Tanner kann sein Vieh nicht mehr auf die Weide treiben, es könnte abstürzen. Er muss das Heu verfüttern, das für den Winter vorgesehen ist. Ebenso kann Tanner den Weizen nicht ernten: «Tanner ist ein Bauer ohne Erde. Hat man sowas je schon gehört?»
Geologen eilen herbei. Sie stehen vor einem Rätsel. Tanner sucht Hilfe – bei der Polizei, beim Pfarrer, bei einem befreundeten Bauern, bei der Gemeinde – vergeblich.
Der Zweifel am Grossen und Ganzen
Der Ohnmächtige verzweifelt. Es bleibt ihm nichts Anderes übrig, als sein Vieh zu verkaufen. «Tanner geht ins Haus, legt sich ins Bett. Es gibt nichts mehr zu tun.» Tanner ist am Abgrund. Er ist verzweifelt.
«Es ist ein Zweifel am Grossen und Ganzen. Das Grosse und Ganze gibt Regen, gibt Sonne, gibt Ernte. Es nimmt auch, doch niemals mehr, als es gibt. Das wenigstens hat Tanner geglaubt, aber jetzt hat das Grosse und Ganze ihm ein Loch ins Land bewerkstelligt, und man muss sich fragen, was das soll.»
Metaphorische Tiefe
Passagen wie diese lassen die rätselhaften Erdlöcher in metaphorischem Licht erscheinen: als Sinnbild für die Schutzlosigkeit des Menschen gegenüber der Natur oder für die jähen, brutalen Unwägbarkeiten des Lebens.
Mit «Tanners Erde» ist Lukas Maisel ein Stück Literatur gelungen, das weit mehr als das beklagenswerte Los der Hauptfigur erzählt. Es ergreift, indem es zu zentralen Fragen des Mensch-Seins führt.