Der Seeadler schläft in seinem Korb, der Kleinspecht meisselt den Stuck von der Decke, in Blumentöpfen mit Kunstnestern sitzen Lerchen und Bachstelzen. Magdalena Heinroth muss aufpassen, dass der frei fliegende Habicht die anderen Vögel mit seinen Klauen nicht tötet.
Heinroth hat in der Mietswohnung in Berlin zwischen Frühjahr und Herbst meistens 18 Stunden-Tage, um alle Vögel zu füttern und alles sauber zu halten. Pro Jahr zieht sie 35 Vogelarten gross.
Eine Mönchsgrasmücke zur Verlobung
1904 beschliesst das Ehepaar Magdalena und Oskar Heinroth, sämtliche Vögel Mitteleuropas von Hand aufzuziehen. Auslöser für dieses wissenschaftliche Mammutprojekt war Oskars Verlobungsgeschenk an Magdalena.
Statt ihr einen Ring an den Finger zu stecken, überraschte er sie mit einer Mönchgrasmücke. Greina, wie der Vogel genannt wurde, spornte die beiden zur Erkenntnis an: «Jeder Vogel gibt unzählige Rätsel auf, und oft lassen sie sich erst lösen, wenn man dem Tier ganz nah ist.»
Das Eiderentchen, das im Zug zur Welt kam
Die beiden treiben ihr Projekt mit grosser Intensität und hohem Tempo voran. Oskar Heinroth, der im Berliner Zoo als Assistent des Direktors arbeitet und später das Aquarium aufbaut, ist in der Ornithologen-Szene bestens vernetzt.
Kollegen schicken ihm Eier aus allen Ecken Europas. Bei Bedarf holt er Küken oder Eier selbst ab. So kommt es vor, dass ein Eiderenten-Küken im Schnellzug von Stockholm nach Berlin schlüpft. Heinroth fährt immer erste Klasse. So kann er das Brüten besser und ohne neugierige Mitreisende überwachen.
Die unendliche Geduldsarbeit der Heinroths
Tagsüber studieren die Heinroths ihre Schützlinge. Abends protokollieren sie die Entwicklung der jungen Vögel akribisch. Magdalena hält die Nachtigallen, Schleiereulen und Ziegenmelker geschickt und beruhigt sie, so dass Oskar fotografieren kann. Weil der Auslöser laut klickt, müssen die Vögel zuerst an die Klick-Geräusche gewöhnt werden.
Entstanden sind Bildserien, die Lukas Jenni, Ornithologe und ehemaliger Leiter der Vogelwarte Sempach noch heute begeistern: «Solche Entwicklungsserien kann man heute gar nicht mehr machen.» Der Heinroth-Biograf Karl Schulze-Hagen ergänzt: «Das war eine unglaubliche Geduldsarbeit.»
Ein Grundstein für die Verhaltensforschung
Die Heinroths forschen gründlich und wollen sich «einen Begriff davon machen, wie es in dem Kopf eines Vogels aussieht.» Damit legen sie das Fundament einer neuen Wissenschaft: der vergleichenden Verhaltensforschung.
1924 erscheint der erste Band «Die Vögel Mitteleuropas». Konrad Lorenz, der diesen Band zum 20. Geburtstag geschenkt bekommt, ist hingerissen. Zwischen ihm und Oskar Heinroth entwickelt sich ein jahrelanger Briefwechsel. 1973 wird Lorenz für seine Erkenntnisse in der Verhaltensforschung mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, wobei Lorenz den «eigentlichen Erfinder» nie verschweigt.