Wie schätzt Jonas Lüscher die politische Kraft der Literatur in der Schweiz ein? «Ich fürchte, allzu gross ist sie nicht», sagt der Autor. Heute stehe sie in Konkurrenz zu anderen Medien – Filme oder TV-Serien zum Beispiel. «Diese erzählerische Kraft, die eben nicht nur von Literatur ausgeht, ist nicht zu unterschätzen.»
Das ganze Leben an sich ist für Lüscher politisch – und damit auch das Schreiben: «Selbst die Entscheidung für ein ganz und gar unpolitisches Schreiben ist in gewisser Weise bereits eine politische Entscheidung», sagt Lüscher. «Früher konnte man sich vielleicht noch in die Naturlyrik zurückziehen. Aber in Zeiten der Klimakrise ist natürlich auch das Schreiben über Berggipfel und Schmetterlinge politisch.»
Bedächtig statt erhitzt
Als Essayist beteiligt sich Jonas Lüscher seit Jahren am politischen Diskurs – auch ganz konkret. 2019 bekam er vom Goethe Institut den Auftrag, gemeinsam mit dem Philosophen Michael Zichy ein Onlineprojekt zum Thema Populismus zu gestalten. Zwei Jahre später erscheint das Projekt «Der populistische Planet» nun auch in Buchform.
Sie hätten sich beim Projekt für die Briefform entschieden, sagt Lüscher. «Wir wollten keine erhitzte Diskussion wie in Talkshows oder Onlineforen, sondern strebten ein langsames Tempo an, eine Bedächtigkeit, die allen Zeit lässt, ihre Gedanken zu formulieren», sagt Lüscher.
Populismus in Portionen
Autorinnen, Philosophen und Journalistinnen aus verschiedenen Ländern beteiligten sich an dem Projekt. Sie berichteten aus Russland, Indien oder Brasilien von Populismus in ihrem Land. Durch die Briefform macht «Der populistische Planet» ein komplexes Thema zugänglich – man kann sich portionenweise mit dem Populismus verschiedener Länder befassen.
Das eigentlich Spannende an der Briefsammlung ist aber, dass das Projekt von Corona eingeholt wurde. Mit den Briefen kann man verfolgen, wie sich populistische Tendenzen durch die Pandemie verstärken, wie gesellschaftspolitische Probleme sichtbarer werden – und wie unterschiedlich die Schreibenden auf die Pandemie reagieren.
Berechtigte Ängste
Manchmal wiederum sind die Reaktionen sehr ähnlich: «Maria Stepanova aus Moskau oder Youssef Rakha aus Kairo waren von Anfang an besorgt, dass jegliche Einschränkungen ihrer Rechte nie wieder zurückgenommen würden», sagt Jonas Lüscher. «Sie hatten also genau dieselben Ängste wie viele Querdenker in der Schweiz. Aber in Russland und Ägypten sind solche Befürchtungen tatsächlich berechtigt, weil es sich bei diesen Ländern nicht um Demokratien handelt.»
Der Frage, inwiefern auch Demokratien zunehmend unter Druck geraten, widmet sich Jonas Lüscher an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen.