Als in einer Schweizer Kleinstadt ein Unbekannter auftaucht, nimmt die Ich-Erzählerin in «Die Aufdrängung» diesen kurzerhand bei sich auf. Fortan hadert sie mit «ihrem» Gast – und mit sich.
Am Motiv der Gastfreundschaft spiegelt der Roman eine breite Themenpalette: Integration und Assimilation, Herkunft und Sprache, Körper und Geschlecht, Besitzverhältnisse und Machtstrukturen.
«Ich werfe Schatten, ja, aber ich werfe keine Schatten für den Gast. Er soll sich seinen eigenen Sonnenbrand holen»: Die Ich-Erzählerin ist trotz ihrer Gastfreundschaft nicht gerade eine Sympathieträgerin. Im Gegenteil: Sie nennt sich selbst einen «bösartigen Menschen», bevorzugt die Einsamkeit und läuft «bucklig» durch die Strassen.
Tabu böse Frau
Wie kommt die Autorin zu dieser Figur? «Mich reizen bösartige Frauenfiguren schon länger, auch im Schreiben fürs Theater, weil sie in der Kunst noch nicht so oft vorkommen», sagt Koch. «Ich möchte daran beteiligt sein, das ganze mögliche Spektrum an Frauenfiguren aufzufüllen.»
Weiblichkeit steht in der kollektiven Imagination nach wie vor für das Sanfte, Häusliche, Integrierende. Weiblich gelesene Personen, die dem nicht entsprechen, werden bestenfalls schief angeschaut, schlimmstenfalls verfolgt und ermordet. Ihre «Bosheit» ist eine Zuschreibung: Sie sind Hexen, Monster, hysterisch. Weibliche Gewalt wird oft mit Eifersucht in Verbindung gebracht und auf einen Mann bezogen; Medea oder Lady Macbeth sind Beispiele dafür.
Frauenfiguren sollen aber böse sein «dürfen», ohne zum Beispiel dem Klischee der wahnsinnigen Rächerin entsprechen zu müssen. Hier hat sich in den letzten Jahren etwas getan: Claire Underwood «darf» in «House of Cards» auch ohne Francis böse sein.
Julia Ducournau gewann dieses Jahr mit «Titane» die Goldene Palme in Cannes für einen Film, dessen mordende Hauptfigur die rigide Geschlechterbinarität komplett auflöst.
Rückeroberung des häuslichen Raums
Die Boshaftigkeit der Ich-Erzählerin wird durch den Gast vielleicht verstärkt, doch sie war vorher schon da: «Es ist auch eine Bösartigkeit sich selbst gegenüber. Diese Figur erlebt eine innere Heimatlosigkeit, eine Selbstentfremdung», sagt Koch.
Hier gelingt Koch ein kluger Kniff: Der Schauplatz des Romans ist ein surreales, an M.C. Eschers Treppenhäuser erinnerndes Haus. Dadurch, dass der Roman in der angeblich weiblichen Domäne spielt, provoziert Koch Erwartungen, die nicht eingelöst werden.
«Es geht auch um die Rückeroberung des häuslichen Raums», meint Koch. Also darum, den häuslichen Raum von Klischees zu befreien. Und umgekehrt anzuerkennen, dass das Zuhause nicht zwingend ein «Safe space» ist: Das Unheimliche kommt ja bekanntlich vom Heim.
Gewalt durch Sprache
Also regiert die Ich-Erzählerin vom Sofa aus über «ihren» Gast: Sie formuliert ein strenges Regelwerk, projiziert in einer teilweise faschistoiden Logik Macht- und Besitzansprüche auf den Gast.
Der Gast selbst kommt dabei nie zu Wort: «Die Aufdrängung» kennt nur die Perspektive der Ich-Erzählerin, ihre «Definitionsaufdrängung».
Das Böse zeigt sich dabei in einer Sprache, die an der Oberfläche höflich bleibt, aber gerade in ihrer bürokratischen Indifferenz, ihrer Unverständlichkeit und vermeintlichen Neutralität gewaltvoll wird. Politische Analogien sind durchaus gewollt, sagt Koch. Stoff für das Böse bietet sich hier genug.
«Die ganze Macht der Versprachlichung des Gastes ist eigentlich schon gewalttätig. Das wirft auch die Frage auf, wer sonst in der Gesellschaft die Macht hat, zu sprechen. Wer darf sagen, wer Gast ist – wer also wieder gehen muss?»
Ariane Koch ist mit «Die Aufdrängung» ein abgründiges, unbequemes und sehr kluges Debüt gelungen.