In ihrem Debüt-Roman «Kukolka» schildert die Berliner Autorin Lana Lux hyperrealistisch das düstere Los eines ukrainischen Waisenmädchens: Kinderheim, Strassenkind, Sex-Agentur. Verstörend und aufrüttelnd.
«Ich wusste, dass ich zu niemandem gehöre und nichts wert bin. Dass ich einfach da bin, so wie Kakerlaken. Niemand weiss, wo die herkommen. Niemand braucht sie. Sie leben, bis einer sie wegklatscht.»
Mitten ins Herz
Es ist Samira, die so über sich spricht, ein kleines Mädchen, das in den 1990er-Jahren in Dnipropetrowsk im Osten der Ukraine aufwächst. Sie ist die fiktive Hauptfigur von «Kukolka», des ersten Romans der deutschsprachigen Autorin Lana Lux.
Lana Lux ist 30-jährig und stammt selbst aus Dnipropetrowsk. Im Alter von zehn Jahren ist sie mit ihren Eltern nach Deutschland ausgewandert. Heute lebt sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin.
«Kukolka» zielt mitten ins Herz. Was der kleinen Samira widerfährt, kann niemanden kalt lassen, wühlt auf, macht zornig. Auf wen? Auf den Staat, der die Schwächsten nicht besser schützt?
Oder auf die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die katastrophale Lebenswege wie denjenigen Samiras überhaupt zulässt? Oder auf die sexistische Männerwelt, welche dem Kind alles nimmt: den Selbstwert, die Würde und das Recht auf den eigenen Körper?
Das Strassenkind
Der Roman setzt ein, als Samira etwa fünf ist. Sie kennt ihre Eltern nicht. Sie lebt im Kinderheim. Dort erlebt sie weder Zuneigung noch Wärme. Für die kleinste Verfehlung gibt es drakonische Strafen.
Samira flieht. Nur weg aus dem Heim! Aber wohin? Sie lebt in Dnipropetrowsk auf der Strasse. Eine lusche Gestalt namens Rocky greift sie auf. Rocky lebt in einer verlotterten Immobilie am Stadtrand – mit einer ganzen Reihe von Strassenkindern. Die Kinder müssen für Rocky betteln gehen oder Passanten bestehlen. An den älteren Kindern vergeht er sich sexuell.
Ein paar Jahre später die vermeintliche Rettung: Ein junger Mann namens Dima nimmt Samira bei sich auf. Er gibt vor, sie zu lieben. Er lockt sie nach Deutschland – und zwingt sie dort zur Prostitution. Sie muss für eine Sexagentur arbeiten. Bis zu 20 «Kunden» täglich. Grauenhaft.
Realismus ohne Gnade
Lana Lux erzählt Samiras Leidensgeschichte in einer schnörkellosen Sprache und mit einem geradezu schmerzhaften Realismus: all die Gefühlskälte, die Gewalt, der perverse Sex, die dieses zerbrechliche Kind zerstören wollen.
Immerhin: Samira überlebt, und es gibt am Ende dieses Buchs zumindest die Andeutung auf eine lichte Wendung. Gott sei Dank!
Die Figur Samira sei ihr vor ein paar Jahren plötzlich «zugefallen», sagt Lana Lux. Sie habe sie wie eine «innere Stimme» wahrgenommen aus ihrem Unterbewusstsein. Die Stimme habe «nach draussen gewollt», Literatur werden wollen. Sie ist es geworden. Und wie!
Eigene Erinnerungen
Lana Lux verarbeitet in diesem Roman auch konkrete eigene Erinnerungen an ihre Zeit in der Ukraine. Zwar war sie selbst keine Waise. Auch lebte sie niemals im Heim und auch nicht auf der Strasse. Aber sie erinnere sich etwa an ein verlottertes Haus in ihrer Nähe, wo verwahrloste Strassenkinder gehaust hätten, erzählt die Autorin.
Sie habe damals, Mitte der 1990er-Jahre, in ihrer Heimat die enormen sozialen Verwerfungen miterlebt, die der Zerfall der Sowjetunion nach sich zog – gerade bei den Schwächsten: den Kindern.
Für den Roman habe sie sich aber auch auf intensive fachliche Recherchen gestützt – über die internationale Sexmafia etwa, über die Drogenkriminalität oder über Schlepperbanden.
Eine Stimme für die Sprachlosen
Um die 150 Millionen Strassenkinder soll es weltweit geben, schätzt das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF. Sie leben irgendwo am Rand der Gesellschaft. Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Lateinamerika, in Afrika, in Teilen Asiens und – in geringerem Mass – auch in den reichen Ländern des Westens.
Lana Lux richtet mir ihrem Roman über die fiktive Samira für einmal den Scheinwerfer auf diese Millionen von Sprachlosen. Das Licht dieses Scheinwerfers ist gleissend hell. So sehr, dass es beim Lesen bisweilen schmerzt. Aber auch so, dass man nicht wegblicken kann. Für einmal.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 beste Bücher, 5.11.2017, 11:03 Uhr