«Wir werden nicht mehr flächig denken, sondern vertikal», tönt es aus einem Lautsprecher in Reinhold Messners Bergmuseum auf Schloss Sigmundskron in Südtirol. An diesem Punkt der Ausstellung werden die Besucher an die Erstbesteigung des Montblanc 1786 erinnert.
Der Berg war damals nicht mehr nur Kulisse, beschreibt Messner in seinem neuen Buch. Goethe etwa reiste in die Schweiz, um sich dort von den Bergen «überwältigen» zu lassen.
Flankiert von spektakulären Fotos von Bergen und ihren Bezwingern, führt uns Messner vor Augen, wie sich traditionelle Alpinisten praktisch ohne Hilfsmittel der «Wildnis Berg» gestellt haben. Der Buchtitel suggeriert, es sei faszinierend, beim Bergsteigen fast zu sterben.
«Das ist eben etwas, was ein Laie ganz schwer verstehen kann: Dass wir freiwillig dort hingehen, wo wir umkommen könnten, um nicht umzukommen», erläutert der 77-jährige Extrembergsteiger im Schlossgarten mit Blick auf die Alpen.
Lebensgefahr als Lebenselixier
In der Begegnung mit dem Berg würden die Alpinisten auf ihr «bescheidenes Menschentum» zurückgeworfen: «Uns wird klar, wie vergänglich, wie unwichtig unser eigenes Leben ist. Und es wächst der Respekt vor den Bergen mit dem Bergsteigen.» Diese respektvolle Haltung will Messner an jüngere Generationen weitergeben, das wird auch im Buch deutlich.
Passagen, die von Messners eigener Erfahrung gespeist sind, wechseln sich auf ergiebige Weise mit Porträts anderer Alpinisten ab. Die kommen in atemberaubenden Erlebnisberichten selbst zu Wort. Der deutsche Bergsteiger Hermann von Barth etwa bezeichnete das Gewitter, das für ihn 1873 auf einem Tiroler Gipfel zur Lebensgefahr wurde, als «unerwünschten Genuss». Der österreichische Alpinist Eugen Guido Lammer wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einer Lawine mitgerissen und beschrieb das als «süsses Nirwana».
«Ich glaube ihm jedes Wort», kommentiert Reinhold Messner, «Er stürzt durch die Matterhorn-Westwand an die 400 Meter ab und ist so demoliert, dass er nur mehr kriechen kann und sagt: Das war der schönste Tag seines Lebens.»
Die Lust der Alpinisten war das Leid der Mütter
Die meisten Leser dieses beeindruckenden Buchs dürften allerdings angesichts solcher Berichte froh sein, dass sie nur gedanklich Extrembergsteigen betreiben und physisch auf dem Sofa ihres sicheren Wohnzimmers sitzen.
Der traditionelle Alpinismus sei im Grunde den Familienangehörigen nicht zuzumuten, gibt Reinhold Messner zu. Er bewundere noch heute seine Mutter dafür, wie sie ihre Angst ausgehalten habe. Regelmässig verliess er als Jugendlicher mit seinem Bruder Günther bereits um vier Uhr früh das Haus, um in den Dolomiten zu klettern: «Unsere Mutter wusste am Morgen nie, ob wir am Abend wiederkommen. Aber wir sind lange wiedergekommen, bis eben mein Bruder am Naga Parbat unter eine Lawine geriet.»
Jeder zweite traditionelle Alpinist sterbe am Berg, weiss Reinhold Messner. Da fragt man sich schon, warum man sich und anderen das angetan hat, anstatt in eine sichere Kletterhalle zu gehen.
«Der Mensch tut seit zehntausend Jahren nichts anderes, als Sicherheiten zu schaffen oder zu suggerieren», antwortet Messner im Garten seines Bergmuseums ohne das kleinste Zögern, «Aber das Gegenteil ist spannender: einen wilden Raum zu haben, wo die Natur ungezähmt ist und tut, was sie will.»