Wo komme ich her, wo geht es hin? In seinem neuen Roman «Crossroads» stellt der US-Amerikaner Jonathan Franzen wieder die ganz grossen Fragen. Der Star-Autor über Religion, Rassismus und die Bedeutung von Beziehungen.
SRF: Während der Lektüre Ihres neuen Romans habe ich mir vorgestellt, wie Sie als Kind mit Latzhose in einer christlichen Jugendgruppe sassen, dort umarmt wurden und wegrennen wollten. War das so?
Jonathan Franzen: Nicht wirklich. Ich habe keine Latzhose in meiner Jugendgruppe getragen. Ich musste sogar schon die Erlaubnis meiner Eltern erkämpfen, in der Schule Jeans zu tragen. Mein Vater hätte Latzhosen mit Bauernhöfen in Verbindung gebracht.
Aber ja, ich bin umarmt worden und ich habe andere umarmt in dieser Gruppe. Wollte ich ihr entkommen? Diese Gruppe hatte keine so tiefe Bedeutung für mich. Ich habe daran teilgenommen, weil ich so in die Nähe von Mädchen kam und weil wir coole Ausflüge gemacht haben.
Religion ist ein wichtiges Thema in Ihrem Roman. Aber brauchen wir nicht etwas anderes als Religion in diesen Zeiten, in denen der Obskurantismus auf dem Vormarsch ist und die Aufklärung weniger Gehör findet?
Eine Säule der Literatur ist für mich, dass es nicht ihre Aufgabe ist vorzuschreiben, wie die Welt sein soll. Die Literatur sollte vielmehr die Welt wiedergeben, wie sie ist.
Fände ich es gut, wenn Leute rationaler handeln würden? Wenn alle US-Amerikaner den vollen Impfschutz anstrebten, weil es offensichtlich und wissenschaftlich betrachtet das Richtige wäre? Natürlich fände ich das gut. Hätte ich es gerne, dass alle Amerikaner die Ergebnisse einer fairen, demokratischen Wahl akzeptieren? Natürlich.
Wenn Sie mit Ihrer Frage andeuten wollen, ich würde dadurch, dass in meinem Roman die Religion für interessante, intelligente Figuren eine Rolle spielt, den Obskurantismus fördern, dann ist das ganz sicher nicht meine Absicht gewesen.
Es ist an sich nichts Falsches daran, sein Leben um einen Mythos herum zu organisieren. Auf die eine oder andere Weise organisieren wir alle unser Leben um etwas, das nicht rational ist.
Es ist nichts Falsches daran, sein Leben um einen Mythos herum zu organisieren
Im Roman kommt die Idee auf, Gott sei in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu finden. Ist das nicht eine Definition, die selbst Ihnen als Atheist gefällt?
Das ist eine schöne Frage. Das war eine starke Idee. Die habe ich den Erfahrungen entnommen, die ich in meiner eigenen christlichen Jugendgruppe gemacht hatte.
Die Vorstellung, man müsse nicht in einer Kathedrale sein, um Gott zu begegnen, sondern fühle schon etwas, das grösser als man selbst ist, wenn man eine authentische Beziehung mit einem anderen Menschen eingeht.
Ich habe so schwierige Zeiten mit Blick auf alle möglichen Arten von Glauben gehabt, dass ich nicht sicher bin, ob ich das unterschreiben kann. Aber Beziehungen sind mir sehr wichtig. Ohne Beziehungen gäbe es keinen Roman.
Stehen die USA gerade am Scheideweg?
Wenn Sie vom Klimawandel sprechen, dann haben wir den Scheideweg schon lange, seit 25 Jahren, hinter uns. Wir haben einen Weg gewählt und müssen jetzt langsam den Preis dafür bezahlen.
Wenn wir von der ernsthaften Befassung mit Rassismus sprechen, sieht es tatsächlich so aus, als ständen wir an einem gewissen Scheideweg. Der Scheideweg scheint mir aber nicht die passendste Metapher dafür zu sein. Denn in den USA wird darum bitterlich gestritten.
Es ist eher ein Kampf oder eine Schlacht als ein Scheideweg. Denn ein Scheideweg würde bedeuten, dass wir zusammen als Land vorankommen und uns nur fragen: Gehen wir jetzt da oder dort lang? Das ist aber nicht der Fall. Wir sind ein sehr gespaltenes Land.
Im Roman sprechen sich die Geschwister Becky und Perry erfolgreich in einer begehbaren Garderobe aus. Könnte man so nicht auch der Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft begegnen, indem man etwa Republikaner und Demokraten oder Rassisten und linke Woke-Aktivisten in eine Garderobe einschliesst?
(lacht) Einige gemeinnützige Einrichtungen, habe ich gehört, versuchen gerade so etwas. Ich glaube zwar nicht, dass man das mit so vielen Menschen machen könnte, dass es die Welt tatsächlich verändern würde.
Aber ja, ich denke, wenn jemand mit einer anderen Person 24 Stunden lang in eine begehbare Garderobe eingesperrt wird, dann bringen sich die beiden entweder um oder verstehen sich letztlich besser.
Das Gespräch führte Tobias Wenzel.