Wyrin sitzt unter Kastanien, geniesst das Steak, eine Spezialität des Hauses. Plötzlich ein Stich am Nacken. Ein reissender Schmerz. Wyrin dreht sich um, sieht jemand weglaufen. Er sackt zusammen. Als es schon zu spät ist, ahnt er, dass es keine Wespe war. Er wurde vergiftet.
Abtrünnige «Objekte» eliminieren
Wyrin hat einst selbst Überläufer und andere Verräter gejagt. Doch das war noch zu Zeiten der Sowjetunion. Als sie zerfiel, setzte er sich ab und verriet Geheimnisse, die inzwischen jede Bedeutung verloren hatten.
Doch Russland vergisst seine Feinde nie. Wenn sonst wenig im Staat funktioniert – die Geheimdienste funktionieren auf jeden Fall: Sie machen abtrünnige «Objekte» ausfindig und eliminieren sie.
Gift im Parfumflakon
So beginnt «Das perfekte Gift» des 1981 geborenen russischen Autors Sergej Lebedew, der heute in Berlin lebt. Im Zentrum des Romans steht der Chemiker Kalitin, der eine ganze Forscherkarriere lang an einem Gift laboriert hat, das wie bei Wyrin tödlich wirkt und sich kaum nachweisen lässt.
Kalitin steht ergeben im Dienst der Wissenschaft und des KGB. Er nimmt sogar den Tod seiner Frau hin, die zufällig mit dem Gift in Berührung gekommen ist. Erst nach der Perestrojka flieht er in den Westen. Aber auch auf Kalitin sind schon Agenten angesetzt, die ihn mit seinem eigenen Gift, versteckt in einem edlen Parfumflakon, liquidieren sollen.
Das System des spurlosen Tötens
Sergej Lebedew entblösst grandios ein Macht- und Gewaltsystem, das nur Loyalität und Illoyalität, Ergebenheit und Verrat, Förderung und Vernichtung kennt. Und er geht der Frage nach, warum dieses System seine Widersacher am liebsten spurlos zerstört.
Im Roman heisst das Gift «Debütant», während der Stoff in Wirklichkeit Nowitschok heisst. Damit wurden der einstige russische Geheimdienstoffizier Sergei Skripal und seine Tochter oder der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny vergiftet. Und das sind nur die wenigen Glücklichen, die einen Giftanschlag überlebten.
Das beste Gift ist die Angst
Lebedew macht klar: Das perfekteste Gift ist keine Substanz aus einem Geheimlabor – es ist die Angst, mit der sich die Staatsfeinde selbst vergiften. Denn sie wissen, dass ihnen keine Flucht und keine Tarnung die Angst nimmt, jederzeit und überall an einem mysteriösen Wespenstich zu sterben.
Sergej Lebedews Roman kann es mit jedem Thriller aufnehmen, geht aber darüber hinaus. Es ist ein hochpoetischer, hochphilosophischer und hochpolitischer Roman, der zeigt, dass in Russland Vergangenes nicht einfach vergangen ist, sondern immer noch erschreckend gegenwärtig. Der Name Putin fällt zwar kein einziges Mal, aber das System, von dem erzählt wird, ist auch das System Putin.