Im letzten Jahr hat der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier für seinen Roman «Die Anomalie» den bedeutenden Prix Goncourt erhalten. Das Buch wurde inzwischen mehr als eine Million Mal verkauft.
Nun ist «Die Anomalie» auf Deutsch erschienen – und verspricht auch hierzulande einen grossen Publikumserfolg.
Le Tellier greift mit vollen Händen in die literarische Trickkiste und trifft damit beim Publikum voll ins Schwarze: Der Roman ist eine Mischung aus intellektuellem, philosophischem Spiel und Krimi. Er ist Satire und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit unserem menschlichen Dasein zugleich.
Ein kopiertes Flugzeug
Die Geschichte ist zwar unrealistisch und etwas kompliziert, dafür aber umso reizvoller als Idee – auch weil Le Tellier die Geschichte im Hier und Jetzt ansiedelt: Ein Flugzeug, das aus Paris kommt, gerät in ein Unwetter, kann aber in New York landen.
Drei Monate später landet genau dieselbe Maschine mit denselben Menschen noch einmal. Die Maschine hat sich also selbst kopiert. Wie kann das sein? Darüber beraten sich Staatschefs, Wissenschaftlerinnen, Theologen.
Ein simuliertes Leben
Sie kommen zu einer spannenden Hypothese, die der schwedische Philosoph Nick Bostrom vor einigen Jahren formuliert hat: die sogenannte «Simulationshypothese». Sie fragt: Was, wenn unser Leben reine Simulation wäre und wir Teil eines grossen Computer-Programms?
Diese Vorstellung, der Mensch könnte eine Art Avatar einer grossen Künstlichen Intelligenz sein, bringt bei den Figuren des Romans ganze Weltanschauungen und Lebenskonzepte ins Wanken. Das ist die philosophische Ebene des Buches.
Wenn der Doppelgänger übernimmt
Die Passagierinnen und Passagiere des Flugzeugs wiederum müssen sich mit der Frage befassen: Was mache ich mit meinem Doppelgänger, meiner Doppelgängerin, die jeweils drei Monate älter oder jünger ist? In einer solchen Zeitspanne kann einiges passieren. Hinzu kommt die Möglichkeit einer zweiten Chance im Leben.
Einer der Passagiere ist zum Beispiel der Schriftsteller Victor Miesel, der im Buch eine zentrale Rolle spielt: Er schreibt nach dieser einschneidenden Erfahrung ein Buch mit dem Titel «Die Anomalie».
Ausgerechnet Miesel nimmt sich in dieser Zwischenzeit das Leben, sein Buch wird zum absoluten Bestseller. Davon profitiert sein Doppelgänger, auch wenn er selbst das Buch weder geschrieben hat noch gut findet.
Von der Erfolgsanwältin bis zum nigerianischen Rapper
Le Tellier dekliniert das Aufeinandertreffen der Doppelgängerinnen und Doppelgänger noch an weiteren Figuren durch. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein, auch im Umgang mit der Situation.
Da sind zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, ein Stararchitekt, eine Erfolgsanwältin, ein nigerianischer Rapper oder auch ein Mädchen, das von seinem Vater missbraucht wird. So webt Le Tellier eine Coming-of-age-Geschichte und eine Liebesgeschichte mit ein.
Eine philosophisch-literarische Tischbombe
Le Tellier versteht sein Handwerk und zieht alle Register – er zündet eine philosophische und literarische Tischbombe, mit zahlreichen Zitaten aus der Literatur, von Georges Perec, Italo Calvino bis hin zu Raymond Queneau, aus dessen Gedichten beispielsweise manche Kapitel-Überschriften zitiert werden.
Dieses Spiel mit literarischen Verweisen und Stilmitteln ist aber eher für Eingeweihte. Dennoch ist der Roman unbestritten ein grosses Lese-Vergnügen, weil Le Tellier grosse Fragen aufwirft, die er unterhaltsam, witzig und rasant verpackt.