Sie stammen aus psychiatrischen Kliniken. Aus Gefängnissen. Gelegentlich auch aus gut betuchten Familien. Was sie verbindet: Sie entsprechen nicht der Norm. Sie neigen zur Kriminalität. Sie zeigen tobsüchtiges Verhalten. Oder sie sind schwermütig.
Deshalb werden sie zu Patientinnen und Patienten des fiktiven Spitals, von dem die 33-jährige Schweizer Autorin Yael Inokai in ihrem dritten Roman «Ein simpler Eingriff» erzählt. Das Spital ist darauf spezialisiert, psychisch Abnormes mit einem chirurgischen Eingriff aus dem Gehirn zu entfernen.
«Der Eingriff dauerte nur kurz», erzählt die Hauptfigur, eine junge Krankenschwester mit Namen Meret, die bei den Operationen assistiert. «Der Doktor brauchte lediglich die betroffene Stelle zu finden, dann würde er diese einschläfern, wie ein krankes Tier.»
«Normal» werden
Eine simple Operation an der für die Abweichung verantwortlichen Hirnregion. Spätestens nach einer Stunde werden die Behandelten ein «normales Leben» führen können.
Meret hat lange Zeit keinen Grund, an den Segnungen der OP zu zweifeln. Bis zu dem Tag, als der «simple Eingriff» sein Ziel verfehlt und die Patientin invalid wird.
Meret beginnt sich Fragen zu stellen: Wer ist eigentlich «nicht normal»? Die Patientin? Der «Doktor», der sich als Wohltäter versteht? Oder das Spital und damit die Gesellschaft, die ein derartiges Spital zulässt?
Aus der Enge ausbrechen
Für Meret ist der Moment gekommen, sich aus dem starren Spitalsystem zu befreien. Beflügelt wird sie dabei durch die Liebe, die sie zu einer anderen Krankenpflegerin entwickelt. Sie hilft ihr, sich als Frau zu fühlen, nicht nur als ausführende Kraft in einer strengen Hierarchie.
Das dystopisch anmutende Szenario ist im Roman zeitlich nicht genau verortet. Mit Sicherheit jedoch spielt das Buch in der Vergangenheit. Vielleicht in den 1950er-Jahren. Vielleicht in Deutschland oder in der Schweiz.
Auf jeden Fall weckt es Erinnerungen an die Jahrzehnte von den 1930er- bis 1970er-Jahre. An jenes düstere Kapitel der Medizingeschichte, als in vielen Industrieländern Chirurgen psychiatrische Patientinnen und Patienten gleich reihenweise am Gehirn operierten. Sie waren der irrigen Meinung, auf diese Weise zu heilen. In Tat und Wahrheit verstümmelten sie jedoch Zehntausende.
Kaleidoskop der Sichtweisen
Trotz dieser Annonce an die Geschichte ist Yael Inokais Buch mehr als ein historischer Roman. Mindestens so wichtig ist etwa die feinfühlig erzählte Liebesgeschichte.
Auch lässt sich der Roman als Kritik an unserer Gegenwart lesen: das Spital als Sinnbild für unsere auf maximale ökonomische Performance getrimmte Leistungsgesellschaft. Wer sich nicht einfügt, fällt auf. Erregt Misstrauen. Wird zum Sonderling. Und irgendwann zum Fall für Medizin und Psychiatrie.
«Wir leben in einer kranken Gesellschaft», sagt Yael Inokai. Dies zeige sich in ihren Augen beispielsweise daran, dass viele Menschen auch mit einer 60-Stunden-Woche zu wenig verdienen, um in Würde zu leben. Und als «Working-Poor» an Körper und Seele Schaden nehmen, um dann beim Arzt zu landen.
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Auch wenn dieser vielleicht Anti-Depressiva verschreibt, ändert dieser «simple Eingriff» nichts am grundsätzlichen Problem, dessen Wurzeln in den unmenschlichen Strukturen unserer Gesellschaft liegen. Und das komplexere Lösungsstrategien bedürfte.
Yael Inokais Roman lässt ganz unterschiedliche Lesarten zu. Das ist eine seiner Stärken. Er verbindet Historisches mit aktuellen Zeitfragen. Und mit einer zarten Love-Story. Auch bietet das Buch die anrührende Geschichte einer Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen. «Ein simpler Eingriff» auf eine Deutung festlegen zu wollen, wäre zu simpel.