«Wie oft lag ich wach mit der Frage, ob Mama morgen mit einem Rollkragenpullover raus kann oder ob er noch mal so dumm ist, ihr eine Platzwunde im Gesicht zu verpassen.»
Die Erzählstimme, die hier spricht, gehört der 17-jährigen Juli. Und die prügelnde Person, um die es geht, ist ihr Vater. Meistens verwendet Juli aber andere Bezeichnungen für ihn. «Arschloch» zum Beispiel.
Aufwachsen in Angst
Julis Vater ist ein narzisstischer Tyrann. Er drillt seine Kinder, er schikaniert seine Frau. Und vor allem: Er schlägt zu. Niemand in dieser wohlhabenden, vermeintlichen Vorzeigefamilie ist vor seinen Ausbrüchen sicher.
An einer Stelle schildert Juli das so: «Daheim penne ich eigentlich selten länger als vier Stunden am Stück. Papa hat die Zimmerschlüssel im Haus kassiert. Weshalb ich immer damit rechne, dass er nachts wieder vor meinem Bett aufkreuzt wegen irgendso 'nem Scheiss. Ich habe vergessen, die Spülmaschine auszuräumen, oder mein Fahrrad draussen gelassen. Dafür gibt's dann in die Fresse.»
Diese auffällig direkte Sprache und ein rasantes Erzähltempo, durchgehalten auf 376 Seiten: «Liebe ist gewaltig» ist schwere Kost und nichts für Zartbesaitete – und trotzdem ein Lese-Genuss. Julis Erzählstimme lässt einen durch die Seiten rauschen. Mitunter bringt sie einen mit ihren Beobachtungen sogar zum Lachen. Es ist aber ein Lachen, das im Halse steckenbleibt.
Denn in Julis schnoddriger Art manifestiert sich ihre Traumatisierung. Wegen dem «riesengrossen Haufen Scheisse bei uns daheim» flüchtet sie sich in Alkohol, in Drogen, wird computerspielsüchtig. Wenn alles zu viel wird, schlägt sie manchmal sogar selbst zu.
Eine rotzige Stimme – und viel Spannung
Schöpferin dieser Erzählstimme ist die deutsche Journalistin Claudia Schumacher. In den vergangenen drei Jahren hat sie an diesem Roman, ihrem Debüt, gearbeitet.
Schon davor hatte sie einen Anlauf zu diesem Text genommen. Nur habe sie damals weder das Thema noch die Hauptfigur in ihrer vollen Komplexität erschliessen können, wie sie sagt. «Das gelang mir erst, als ich diese Stimme von dieser rotzigen 17-Jährigen im Ohr hatte. Ich bin durch die Stadt geradelt, und plötzlich war sie da, diese Stimme», so Schumacher.
Neben dieser prägnanten Erzählstimme und dem rasanten Tempo lebt das Buch von seiner Spannung: Wird es Juli gelingen, ihre traumatische Kindheit abzuschütteln? Wird der prügelnde Vater zur Rechenschaft gezogen? Und: Wird je öffentlich, was hinter den Gardinen dieser Kleinstadtvilla vor sich geht?
Die Mutter als Mittäterin
Dass möglichst nichts nach aussen dringt, dafür sorgt Julis Mutter. Auch sie und ihre Verdrängungsmechanismen zu beschreiben, ist Claudia Schumacher sehr gelungen.
Hat der Vater wieder um sich geschlagen, besänftigt die Mutter ihre Kinder mit ausgiebigen Shopping-Touren. Wenn Juli die häusliche Gewalt anspricht, tut sie, als wüsste sie nicht, wovon die Rede ist. Die Flecken auf dem Teppich? Das ist kein Blut, natürlich nicht.
Juli weiss oft selbst kaum, was nun wirklich passiert ist. Darum gräbt und gräbt sie in ihren Erinnerungen. Und kämpft um die eigene Deutungshoheit.