Der knapp 80-jährige Lukas Hartmann wagt sich ans «Familiensilber»: Er schildert die abgründige Lebensgeschichte seiner Grossmutter Martha, die um die Jahrhundertwende in ärmlichsten Verhältnissen geboren und später verdingt wurde.
Getrieben von der permanenten Angst vor der Armut, pflanzte sie diese Sorgen auch ihren Söhnen ein, unter ihnen Lukas Hartmanns Vater. Erst sein Sohn, der spätere Schriftsteller, vermochte sich aus dem belastenden emotionalen Erbe zu befreien.
SRF: Warum schreiben Sie diese Familiensaga erst jetzt?
Lukas Hartmann: Ich hatte immer Skrupel, weil ich nicht wusste, ob meine Erinnerungen stimmen. Nachdem ich sie jedoch verschiedentlich geprüft und mich auch mit meinem Bruder ausgetauscht hatte, verfügte ich über die nötige Sicherheit.
Im Zentrum steht das Los ihrer Grossmutter Martha. Was fasziniert Sie an ihr?
Dass sie trotz Armut und Ausbeutung in der Kindheit die Kraft aufbrachte, selbst zwei Kinder aufzuziehen, wenn auch mit grosser Strenge. Und dass sie es schliesslich aus eigener Kraft sogar zu einem gewissen Wohlstand brachte.
Wie zeigte sich dieser Wohlstand?
Ab einem gewissen Alter konnte sie sich zur Feier des Tages auch einmal Rahm und Dosenpfirsiche für einen Fruchtsalat leisten.
Wie war Ihr Verhältnis zu ihr?
Als Mittelschüler habe ich sie oft im Altersheim besucht. Dabei öffnete sie sich mir gegenüber ein wenig und erzählte von ihrer Zeit als Verdingkind, was sie sonst nie tat.
Die Literatur ermunterte mich, eigene Wege zu gehen.
Ich spürte ihre tiefe Einsamkeit, da sie nie geliebt worden war. Diese emotionale Kälte hat sich in unserer Familie weiter gepflanzt.
Über Ihren Vater, für den es als Lebensinhalt nur den beruflichen Erfolg gab, bis hin zu Ihnen?
Ja. Ich hatte jedoch das Glück, dass ich schon als junger Mensch ein grosser Leser war. Die Literatur ermunterte mich, eigene Wege zu gehen. Und auch die sich daraus ergebenden Konflikte mit meinem Vater auszuhalten.
Hatten Sie je Bedenken, so viel Privates preiszugeben?
Ich brauchte einen langen Anlauf. Wichtig war mein Entscheid – ausser für meine Grossmutter Martha – für alle Figuren Pseudonyme zu verwenden. Dies erlaubte mir, einzelne Szenen zu fiktionalisieren. Etwa um mir die Gefühlslage meiner Mutter auszumalen, die eine musische Seite hatte, die sie jedoch neben ihrem Ehemann nie ausleben durfte.
Martha steht für die Vorkriegsgeneration des 20. Jahrhunderts, Ihr Vater für die Kriegsgeneration, und Sie selbst für die Generation der Nachkriegszeit. Was hat Sie zur grossen Geste verlockt, gleich drei Generationen literarisch ins Visier zu nehmen?
In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war eine Mehrheit der Bevölkerung entweder arm oder konnte es jederzeit werden. Nach dem Krieg, in den Jahrzehnten der Hochkonjunktur, setzten viele auf die reale Möglichkeit, dank harter Arbeit Wohlstand zu erkämpfen.
Ab den 1960er-Jahren wuchsen bei der jungen Generation, zu der ich gehörte, zunehmend Zweifel an dieser einseitigen Haltung. Meine Familie bot mir die Gelegenheit, diesem atemberaubenden Wandel der Lebenswirklichkeiten literarisch nachzuspüren.
Das Gespräch führte Felix Münger.