Zum Inhalt springen

Roman «Martha und die Ihren» Lukas Hartmann: «Ich hatte lange Skrupel, dies zu schreiben»

Der knapp 80-jährige Lukas Hartmann wagt sich ans «Familiensilber»: Er schildert die abgründige Lebensgeschichte seiner Grossmutter Martha, die um die Jahrhundertwende in ärmlichsten Verhältnissen geboren und später verdingt wurde.

Getrieben von der permanenten Angst vor der Armut, pflanzte sie diese Sorgen auch ihren Söhnen ein, unter ihnen Lukas Hartmanns Vater. Erst sein Sohn, der spätere Schriftsteller, vermochte sich aus dem belastenden emotionalen Erbe zu befreien.

Lukas Hartmann

Schriftsteller

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Lukas Hartmann wurde 1944 in Bern geboren. Hartmann schreibt vor allem historische Romane, für die er mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Seit 1996 ist er mit der Politikerin Simonetta Sommaruga verheiratet. Ende Oktober 2022 erlitt er einen Schlaganfall, weshalb Sommaruga ihren Rücktritt als Bundesrätin auf Ende 2022 bekannt gab.

SRF: Warum schreiben Sie diese Familiensaga erst jetzt?

Lukas Hartmann: Ich hatte immer Skrupel, weil ich nicht wusste, ob meine Erinnerungen stimmen. Nachdem ich sie jedoch verschiedentlich geprüft und mich auch mit meinem Bruder ausgetauscht hatte, verfügte ich über die nötige Sicherheit.

Im Zentrum steht das Los ihrer Grossmutter Martha. Was fasziniert Sie an ihr?

Dass sie trotz Armut und Ausbeutung in der Kindheit die Kraft aufbrachte, selbst zwei Kinder aufzuziehen, wenn auch mit grosser Strenge. Und dass sie es schliesslich aus eigener Kraft sogar zu einem gewissen Wohlstand brachte.

Wie zeigte sich dieser Wohlstand?

Ab einem gewissen Alter konnte sie sich zur Feier des Tages auch einmal Rahm und Dosenpfirsiche für einen Fruchtsalat leisten.

Wie war Ihr Verhältnis zu ihr?

Als Mittelschüler habe ich sie oft im Altersheim besucht. Dabei öffnete sie sich mir gegenüber ein wenig und erzählte von ihrer Zeit als Verdingkind, was sie sonst nie tat.

Die Literatur ermunterte mich, eigene Wege zu gehen.

Ich spürte ihre tiefe Einsamkeit, da sie nie geliebt worden war. Diese emotionale Kälte hat sich in unserer Familie weiter gepflanzt.

Über Ihren Vater, für den es als Lebensinhalt nur den beruflichen Erfolg gab, bis hin zu Ihnen?

Ja. Ich hatte jedoch das Glück, dass ich schon als junger Mensch ein grosser Leser war. Die Literatur ermunterte mich, eigene Wege zu gehen. Und auch die sich daraus ergebenden Konflikte mit meinem Vater auszuhalten.

Hatten Sie je Bedenken, so viel Privates preiszugeben?

Ich brauchte einen langen Anlauf. Wichtig war mein Entscheid – ausser für meine Grossmutter Martha – für alle Figuren Pseudonyme zu verwenden. Dies erlaubte mir, einzelne Szenen zu fiktionalisieren. Etwa um mir die Gefühlslage meiner Mutter auszumalen, die eine musische Seite hatte, die sie jedoch neben ihrem Ehemann nie ausleben durfte.

«Martha und die Ihren»: Ein Roman über ein Jahrhundert

Box aufklappen Box zuklappen

Es zählt zu den grossen Verdiensten des 1944 geborenen Erfolgsautors Lukas Hartmann, dass er immer wieder Stoffe aus der Schweizer Geschichte aufgreift, literarisch umsetzt und sie in seinen Romanen einem breiten Lesepublikum zugänglich macht. So auch im aktuellen Werk «Martha und die Ihren».

Ausgehend von seiner Grossmutter Martha zeigt Hartmann exemplarisch an verschiedenen Figuren aus seiner eigenen Familie, wie sich das Leben einfacher Leute in der Schweiz zwischen 1900 bis Mitte der 1960er-Jahre veränderte.

Während in den ersten Jahrzehnten jede soziale Absicherung fehlte und die Armut wie ein Damoklesschwert über den Familien hing, gelangten ab dem Zweiten Weltkrieg viele Menschen zu Wohlstand – dank enormem Arbeitseinsatz und Selbstausbeutung bis zum Umfallen. Erst in den 1960ern meldete sich eine junge Generation zu Wort, die andere Prioritäten setzte und den kreativen Seiten des Lebens mehr Platz einräumte.

Lukas Hartmans eingängig erzählter Roman bietet Einblicke in prägende Epochen der neueren Schweizer Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Und er ermuntert Leserinnen und Leser, die eigenen Eltern und Grosseltern über deren Erinnerungen an vergangene Zeiten zu befragen.

Martha steht für die Vorkriegsgeneration des 20. Jahrhunderts, Ihr Vater für die Kriegsgeneration, und Sie selbst für die Generation der Nachkriegszeit. Was hat Sie zur grossen Geste verlockt, gleich drei Generationen literarisch ins Visier zu nehmen?

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war eine Mehrheit der Bevölkerung entweder arm oder konnte es jederzeit werden. Nach dem Krieg, in den Jahrzehnten der Hochkonjunktur, setzten viele auf die reale Möglichkeit, dank harter Arbeit Wohlstand zu erkämpfen.

Ab den 1960er-Jahren wuchsen bei der jungen Generation, zu der ich gehörte, zunehmend Zweifel an dieser einseitigen Haltung. Meine Familie bot mir die Gelegenheit, diesem atemberaubenden Wandel der Lebenswirklichkeiten literarisch nachzuspüren.

Das Gespräch führte Felix Münger.

Wöchentlich frischer Lesestoff im Literatur-Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen

Der Literatur-Newsletter bietet die perfekte Inspiration für das nächste Buch. Ausserdem wird jede Woche eine Schweizer Schriftstellerin oder ein Schweizer Schriftsteller in den Fokus gerückt. Newsletter jetzt abonnieren.

Radio SRF 1, Treffpunkt, 1.7.2024, 10:00 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel