Gottfried Kellers Roman «Martin Salander»: Das ist die Geschichte einer Familie, die von Schicksalsschlägen getroffen wird und trotzdem immer wieder aufzustehen vermag. Der Roman ist aber auch ein Sittengemälde der Schweiz des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Was macht «Martin Salander» so spannend und einzigartig? Antworten von der Literaturwissenschaftlerin Ursula Amrein.
SRF: Ursula Amrein, Sie bezeichnen Gottfried Kellers Roman «Martin Salander» als Wagnis. Warum?
Ursula Amrein: Gottfried Keller entscheidet sich, in den 1880er-Jahren einen zeitkritischen Roman zu schreiben. Damit findet er ein neues Thema.
Auch in formaler Hinsicht stellt sich Gottfried Keller einer gewissen Herausforderung. Er hat bis zu dieser Zeit vorwiegend Novellen geschrieben, Erzählungen also, die in ihrem Handlungsverlauf überschaubar sind. Jetzt will er einen komplexen Roman schreiben.
Gottfried Keller ist zu klug, um einfache Lösungen zu präsentieren.
Keller beschäftigt sich mit Romantheorie und findet dann zu einer ganz eigenen Ausdrucksweise. Dass Keller im Alter literarisch noch einmal neu ansetzt, birgt auch ein gewisses Risiko
Warum lässt sich Gottfried Keller auf dieses Risiko ein?
Keller realisiert, dass ihm allmählich die Weggefährten wegsterben. 1882 etwa stirbt der Unternehmer Alfred Escher, einerseits Kellers Förderer, aber auch sein Gegenspieler.
Was Keller und Escher verbindet: Beide gestalten sie ab 1848 mit am Projekt einer modernen Schweiz. Mit diesem ambitionierten Projekt ist Kellers Biographie unmittelbar verbunden.
Jetzt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, sieht Keller, wie in Politik und Wirtschaft eine neue Generation das Sagen hat. Eine Generation, die den Erfahrungshintergrund von 1848 nicht mehr teilt.
Kommt hinzu, dass Keller den aufkommenden Wirtschaftskapitalismus als Bedrohung des Bundesstaats ansieht. Er sieht Machtmissbrauch und Spekulation, und all das will er jetzt in einem Buch festhalten.
Damit aber setzt er seinen Ruf als gefeierter Schriftsteller von Novellen und Gedichten aufs Spiel.
Ist ihm dieses Wagnis geglückt?
Keller hatte für dieses Buch einen ganz bestimmten Erzählplan. Dieser besteht darin, dass er zeigen will, wie die junge Republik, also die liberale demokratische Schweiz durch Korruption und Machtmissbrauch kaputt geht oder zumindest an ihre Grenzen kommt.
Ich finde es mutig, dass Keller die akuten Fragen seiner Zeit kritisch aufgreift.
Das gelingt ihm mit «Martin Salander» vorzüglich. Gleichzeitig will Keller aber auch eine Hoffnungsperspektive aufzuzeigen. Nämlich seine Perspektive, wie es positiv in die Zukunft weitergehen könnte. Daran scheitert er. Aber ich finde, gerade das macht das Buch auch interessant. Es zeigt, dass Keller zu klug ist, um einfache Lösungen zu präsentieren.
Keller scheitert also an seinem eigenen politisch-gesellschaftlichen Anspruch, nicht aber literarisch?
Ich finde es mutig, dass Keller die akuten Fragen seiner Zeit kritisch aufgreift. Was mich beeindruckt ist, wie er das literarisch macht. Er schreibt ja eben keine Reportage, er verfasst nicht einfach ein Protokoll ...
... Protokoll im Sinne von: Hier ist eine Bank zusammengekracht, dort wurde jemand verhaftet, weil er falsches Zeugnis abgelegt oder Kapital für Eigeninteresse verwendet hat.
Die Presse damals war voll von solchen Meldungen! Keller nimmt diese Themen auf und bringt sie in ein kohärentes System. In dem er einen Familienroman anlegt, kann er die Auswirkungen der Zeit an einem überschaubaren Kosmos durchspielen.
Mit Martin Salander, seiner Frau, seinen beiden Töchtern und dem Sohn Arnold dekliniert Keller unterschiedliche Positionen durch und kann je nach Bedarf weitere Personen andocken – unter anderem Salanders grossen Gegenspieler, den betrügerischen Kapitalisten Louis Wohlwend.
Damit lässt Gottfried Keller letztlich auch die Idee anklingen, dass die Schweiz als Nation selbst als eine Art Familie zu verstehen ist.
Das Gespräch führte Bernard Senn.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Vorlesetag, 2.1.2020, ab 9 Uhr