Im Jahr 2019 wurde die britische Autorin Bernardine Evaristo schlagartig bekannt. Als erste Schwarze Schriftstellerin erhielt sie den renommierten Booker Prize. Das ausgezeichnete Werk: der 500 Seiten dicke Roman «Mädchen, Frau etc.», in dem die Lebenswege zwölf Schwarzer Frauen kunstvoll miteinander verwoben sind.
Nun liegt ein weiteres Buch von Evaristo erstmals auf Deutsch vor. Der Roman «Mr. Loverman» erschien im englischen Original bereits 2014. Dass er endlich übersetzt wurde, liegt an der weltweiten Aufmerksamkeit, die Evaristo seit dem Booker Prize zuteilwird – und daran, dass es sich bei «Mr. Loverman» um ein wunderbar schräges Buch handelt.
Ein in die Jahre gekommener Denzel Washington
Die Hauptfigur heisst Barrington Jedidiah Walker, kurz: Barry. Auf der Karibikinsel Antigua geboren und als junger Mann nach England ausgewandert, ist er inzwischen Mitte 70. Noch immer trägt er «schicken Zwirn» und einen «wohlgestutzten Oberlippenbart». Bekannte sagen, er sehe aus wie Denzel Washington. Dieser Beschreibung würde Barry nie widersprechen.
Eigentlich ist Barry zufrieden mit seinem Aussehen. Trotzdem trauert er seiner Jugend hinterher. Wehmütig blickt er «auf die Zeit zurück, als die Kraft des eigenen Pissestrahls Backsteine verschieben konnte, aus vollen zwei Metern Entfernung».
Doppelleben mit einem Mann
Barry steckt mitten in einer «Later-Life Crisis» und will sein Leben aufräumen. «Aufräumen» bedeutet: Er möchte sich von seiner Frau trennen – und endlich offen mit seiner grossen Liebe zusammen sein, seinem Jugendfreund Morris.
Jahrzehntelang hat Barry ein Doppelleben geführt. Zwar verdächtigt ihn seine Frau schon lange diverser Seitensprünge. Aber dass Barry sie nicht mit anderen Frauen, sondern mit einem Mann betrügt, ahnt sie nicht.
Gnadenlose Urteile
Wird Barry die Ehe nun tatsächlich beenden? Schafft er das späte Coming-out? Von diesen Fragen lebt der Roman. Er lebt aber auch von dem lakonisch-ironischen Tonfall, den Bernardine Evaristo gewählt hat, und den mitunter ziemlich derben Beschreibungen.
Barrys Sicht der Dinge ist in Ich-Form beschrieben. Die Urteile über sein Umfeld, insbesondere über seine Frau und deren Freundinnen, sind gnadenlos.
Weniger Political Correctness, mehr Schärfe
Evaristos Bestseller «Mädchen, Frau etc.» war ein Buch, das die Literaturkritikerin Sieglinde Geisel als «romangewordene Political Correctness» bezeichnete. In «Mr. Loverman» zeigt Evaristo, dass sie auch anders kann: Hier wird mit aller Schärfe gespottet – über Frauen wie Männer, über Schwarze wie Weisse. Niemand bleibt von Barrys gnadenlosem Urteil verschont.
Es macht richtig Spass, dieses Buch zu lesen. Mit einem kleinen Wermutstropfen: Es dauert ein wenig, in die deutsche Fassung hineinzufinden. Denn die Übersetzerin Tanja Handels hat versucht, den karibisch-britischen Slang des Originals ins Deutsche zu übertragen. Da es diesen Slang im Deutschen so nicht gibt, musste sie einen eigenen kreieren. Dieser wirkt am Anfang etwas befremdlich.
Nach ein paar Seiten von «Mr. Loverman» hat man sich aber daran gewöhnt. Dann lassen sich Bernardine Evaristos Einfallsreichtum und ihre stilistische Vielfalt in vollen Zügen geniessen.