Dreissig Jahre sind verstrichen, bis es der heute 42-jährige deutsche Autor Tijan Sila wagte, die dunkelsten Jahre seines Lebens literarisch zum Thema zu machen: die Belagerung Sarajevos während des Bosnienkriegs. «Um all dieser Ereignisse aufzuarbeiten», sagt Tijan Sila, «musste ich zuerst stark genug sein.»
Der Autor ist 1981 in Sarajevo geboren. Dort erlebte er im Frühjahr 1992 als Elfjähriger, wie bosnisch-serbische Truppen und Teile der jugoslawischen Volksarmee einen Belagerungsring um die bosnische Hauptstadt zogen: der Auftakt zu einer Blockade, die knapp vier Jahre dauerte.
In der Stadt waren gegen 400'000 Menschen. Tijan Sila lebte mit seiner Familie in einer beengenden Zweizimmerwohnung in einer Plattenbauwohnung im Westen Sarajevos.
Leben in der Blockade
Das Grauen war allgegenwärtig: kein Strom, keine Heizung, Hunger, mangelnde medizinische Versorgung, der ununterbrochene Beschuss der Stadt durch Scharfschützen und Artillerie. In Sarajevo starben über 11'000 Menschen.
1994 gelang der Familie die Flucht nach Deutschland. Tijan Sila besuchte das Gymnasium, studierte, wurde Berufsschullehrer und lebt heute mit seiner Familie in Kaiserslautern. «Radio Sarajevo» ist Tijan Silas vierter Roman. Darin schildert er durch die Augen des Kindes, das er einmal war, den Horror, den er selbst miterlebt hat.
Das Trauma verdrängen
«Lange Zeit hatte ich Angst, das alles aufzuschreiben», sagt Sila. Als er schliesslich mit der Niederschrift begann, seien die Erinnerungen regelrecht aus ihm herausgeflossen.
Noch wenige Jahre zuvor wäre dieses Buch kaum möglich gewesen: Tijan Sila hatte die Hölle verdrängt. In seinem Roman schildert er, dass er schon kurz nach Kriegsbeginn aufgehört habe zu weinen. Und dass er «für die nächsten 15 Jahre … keine einzige Träne» vergoss. Auch als er längst im sicheren Deutschland war, sei er «besessen» gewesen, seine «Gefühle zu kontrollieren».
Dieser Akt der Selbstbeherrschung habe ihm eine seltsame Lust bereitet. Er habe, erinnert sich Sila, «den ganzen Tag Sport, insbesondere Kampfsport» getrieben. Und sich den Gedanken an den Krieg verboten.
Die Befreiung
Erst Jahre später seien die Emotionen plötzlich aus ihm herausgebrochen. Aus einem nichtigen Anlass während des Studiums: «Die Tränen flossen wie Wasserfälle», erinnert sich Sila. «Mein Panzer bekam erste Risse» – bis er nach und nach ganz abfiel «wie ein Stück tote Haut».
Auf die Frage, was denn sein stärkstes Bild der Zeit im belagerten Sarajevo sei, sagt Tijan Sila: «Die völlige Finsternis in der Nacht, die Stadt war vom Strom abgeschnitten. Die einzigen Leuchtpunkte waren brennende Mülltonnen und die Leuchtspurmunition am Himmel.»
Details wie diese bestimmten die Wahrnehmung des Knaben inmitten der Kriegshölle. Und sie kennzeichnen auch das Buch «Radio Sarajevo»: Es bietet keine historisch umfassende Darstellung der Belagerung. Und es verzichtet darauf, die damaligen Täter auf der serbischen Seite anzuklagen.
Es schildert aus der Sicht eines unschuldigen Opfers, was ihm der Krieg antut. Seine Hoffnung, sagt Tijan Sila, sei es, Mitgefühl zu wecken, «und zwar nicht mit mir als einzelnem Kind, sondern mit mir als einem von Millionen von Kindern, die im Krieg waren». Und die es jetzt sind, am heutigen Tag.