Die Szene ist so unfassbar wie widerlich: An einem Kindergeburtstag in Russland verköstigen sich die Gäste an einer Torte, die Josef Stalin darstellt. Nachzulesen ist diese Schilderung im Roman «Rote Kreuze» des 1984 geborenen Autors Sasha Filipenko.
Stalin als süsse Überraschung. «Das ist alles, was wir über die Geschichte wissen müssen», heisst es im Roman lakonisch. «Ein Tyrann wird eines schönen Herbsttages zu einer Torte».
Verdrängte Verbrechen
Tatsächlich ist Stalin in Russland heute wieder vielerorts präsent. Sei es auf Souvenirartikeln wie Tassen oder T-Shirts. Oder sei es in historisch fragwürdigen Serien im staatlichen Fernsehen, die den Tyrannen unkritisch als einen der grössten Feldherren aller Zeiten preisen.
Über Stalins gigantische Verbrechen hingegen herrscht beredtes Schweigen. Darüber, dass in den Jahrzehnten unter Stalin bis zu dessen Tod 1953 rund 25 Millionen Sowjetbürger Opfer des staatlichen Terrors wurden.
Der Roman «Rote Kreuze» zeigt, wie weit im Russland unter Putin die Verharmlosung Stalins mittlerweile gediehen ist. So ruft eine der Figuren im Roman aus: «In Russland gehört ein Stalin her!» Ein Stalin würde mit allen Gegnern Russlands «aufräumen».
Der Bericht einer Zeugin
Sasha Filipenko stellt Entgleisungen wie dieser im Roman den Lebensbericht einer über 90-jährigen Russin gegenüber. Sie hat den Stalinismus selbst erlebt und hat dabei praktisch alles verloren: ihren Mann, ihr Kind, ihre Freiheit, ihren Glauben an den Menschen.
Die Frau heisst Tatjana Alexejewna. Sie ist fiktiv. Der Autor verdichtet in ihr literarisch den Horror der Stalinzeit, den er in Archiven und in der Literatur recherchiert hat. Dementsprechend ist die Sprache, die Sasha Filipenko verwendet. Sie ist dokumentarisch und nüchtern.
Klar: Es gibt bereits einige literarische Aufarbeitungen des Stalinismus. Darunter die nach wie vor unverzichtbaren Klassiker von Autoren wie Alexander Solschenizyn oder Warlam Schalamow.
Dokumente aus der Schweiz
Das Besondere an Sasha Filipenkos Roman sind jedoch die zahlreichen und kaum bekannten Originaldokumente, aus denen der Autor zitiert. Er hat sie im Archiv des Roten Kreuzes in Genf gefunden und – geschickt verknüpft mit Tatjanas Geschichte – in den Roman eingearbeitet.
Bei den Dokumenten handelt es sich um Schreiben, in denen sich das Rote Kreuz während des Zweiten Weltkriegs wiederholt an die Sowjetregierung wandte: Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene sollten ausgetauscht werden.
Stalin lehnte dies konsequent ab: Eigene Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft gerieten, waren in seinen Augen Verräter.
Leise Hoffnung
Der Eindruck, den der Roman hinterlässt, ist ambivalent: Zum einen gibt sich der Erzähler überzeugt, dass es «das Grundmuster» der Geschichte sei, dass «Blut immer fliessen» werde.
Zum anderen gibt das Buch aufgrund seiner Konstruktion auch Anlass zur Hoffnung: Es rekonstruiert nicht etwa chronologisch Tatjanas Geschichte. Vielmehr erzählt die leidgeprüfte Tatjana ihre Geschichte einem Gegenüber, einem jungen Mann mit Namen Alexander.
Dieser hat seinerseits ein schweres Los zu tragen. Zwischen Tatjana und Alexander entwickelt sich über die Generationen hinweg ein zunehmend empathischer Dialog – und damit eine heilsame zwischenmenschliche Verbundenheit.