«Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» – der Titel zitiert einen Sprayer-Spruch der Zürcher Jugendbewegung in den Achtzigern.
In seinem Debüt-Roman wagt sich Demian Lienhard, Jahrgang 1987, an ein Thema, das in der Schweizer Gegenwartsliteratur kaum präsent ist: Es geht um die Generation, die sich damals im Autonomen Jugendzentrum traf. Es geht um das Elend der offenen Drogenszene am Platzspitz.
Der Autor ist jünger als sein Thema
Ein kühnes Debüt, nicht nur weil der Autor zu jung ist, um diese Zeit selbst erlebt zu haben. Sondern auch weil er sich die Stimme einer weiblichen Ich-Erzählerin aneignet.
Am Ende des Romans erlaubt der Autor sich einen Cameo-Auftritt: In der Badi begegnet die Ich-Erzählerin Alba einem Sechsjährigen. «Als der geboren wurde, da hat es ungefähr angefangen bei mir auf dem Platzspitz», denkt sie. Als sie den Buben nach seinem Namen fragt, ist die Antwort: «Demian».
Auf die Ich-Erzählerin ist kein Verlass
Alba ist eine hochsensible junge Frau, oft sarkastisch und letztlich sehr einsam. Bevor sie das Heroin entdeckt, stolpert sie eher orientierungslos durch ihr Leben, das sich zwischen Spital, Schule und einem schwierigen Zuhause abspielt.
Sie erprobt die Liebe mit Jack, einer verlorenen Seele wie sie selbst. Dabei ist der Tod ein ständiger Begleiter. Gestorben sind nicht nur Albas Vater, ihre grosse Schwester und ihr Stiefvater.
«Ich habe Lea kennengelernt, als ich Jack zur Beerdigung begleitet habe. Ich mochte sie auf Anhieb. Lea ist Jacks Schwester. Und es war ihre Beerdigung.» Man reibt sich die Augen, so flapsig wird hier vom Tod geredet.
Dabei weiss man nie so recht, wer nun wirklich tot ist: Denn Alba ist das, was man in der Literaturwissenschaft eine unzuverlässige Erzählerin nennt.
Gar wilde Stilblüten
Demian Lienhard ist ein formbewusster Erzähler. Doch zumindest auf den ersten hundert Seiten seines Romans treibt der Wille zum Stil auch seine Blüten.
Manche Formulierungen triefen vor Originalitätssucht. «Sie holt aus. Sekunden später drängt sich mir der harte Boden ins Gesicht.» So liest es sich zum Beispiel, wenn Alba von ihrer Mutter eine Ohrfeige verpasst bekommt.
Erst allmählich findet der Roman zu seinem Thema und zu seiner Sprache. Auf dem Platzspitz begegnet Alba Jack, den wir tot geglaubt haben, «und sein Gesicht sieht aus wie zehn Jahre Bürgerkrieg».
Sie fragt ihn, was er hier tue. «Auf dem Platzspitz?», fragt er zurück. «Auf der Welt», erwidert sie.
«Wie Fliehen, nur umgekehrt»
Für die Heroinsucht findet Lienhard eine treffsichere Sprache. Die Droge habe sie in der Vergangenheit «einkapselt», lässt er seine Ich-Erzählerin sagen. «Es ist wie Fliehen, nur umgekehrt. Alle anderen gehen, du bleibst.»
Der Autor gewährt uns Einblick in ihr Bewusstsein: «In meinem Kopf ist es jetzt schwarz vor Gedanken.»
Demian Lienhard zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die an einer schwer fassbaren Entfremdung krankt. Die jungen Menschen, denen wir in diesem Roman begegnen, sehen keinen Sinn im Erwachsensein, vielleicht weil sie sich von den Erwachsenen bei der Suche nach sich selbst alleingelassen fühlen.
So ist dieser Coming-of-Age-Roman ist auch ein eminent politisches Buch über ein unverarbeitetes Trauma unserer Wohlstandsgesellschaft.