Wie viele «Sans-Papiers», also Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere, in der Schweiz leben, weiss niemand. Schätzungen gehen von rund 100'000 aus. «Sans-Papiers» dürfen nicht hier sein, ihre Arbeitskraft ist jedoch gefragt.
Von einer fiktiven «Sans-Papiers» mit Namen Nastja erzählt Natascha Wodin in ihrem aktuellen Roman. Nastja stammt aus der Ukraine und lebt in Berlin. Ihr unmenschliches Dasein wäre jedoch ebenso gut in der Schweiz vorstellbar.
Moderne Sklaverei
Eindringlich schildert Natascha Wodin, wie Nastja in Berlin von morgens bis abends in Betrieben und bei deutschen Familien schuften muss, um sich zu finanzieren. Das alles für einen Hungerslohn und unter ständiger Angst, als «Illegale» aufzufliegen.
Eines Tages heuert Nastja bei der Erzählerin des Romans als Putzkraft an. In dieser Figur lässt sich teilweise die Autorin Natascha Wodin selbst erkennen. Dieses Verfahren ist typisch für die Berliner Autorin: In früheren Romanen hat sie sich wiederholt als autofiktionale Figur unmittelbar in die Handlung eingebracht.
Am deutlichsten im Roman «Sie kam aus Mariupol» von 2017, der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Natascha Wodin erzählt darin von ihrer berührenden Spurensuche nach ihrer ukrainischen Mutter.
Parallelromane
Im Roman «Nastjas Tränen» finden die Erzählerin und deren neue Putzkraft Nastja schnell eine gemeinsame Sprache und werden Freundinnen.
Zum einen, weil beide russisch sprechen. Zum anderen, weil die Erzählerin alias Natascha Wodin, Parallelen erkennt zwischen der entwurzelten Nastja und der im «Mariupol»-Roman verewigten Mutter.
Beide – Wodins Mutter und Nastja – verschlug es aufgrund zeitgeschichtlicher Verwerfungen von der Ukraine nach Deutschland. Wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts. Und beide waren in der Fremde innerlich stets zerrissen ob des Gefühls, keinen Halt zu finden.
Opfer der Zeitgeschichte
Der neue Roman rollt zunächst Nastjas Vorgeschichte auf. In der Ukraine war sie Bauingenieurin und übte den Beruf über 25 Jahre lang aus. Bis zur Wende 1991, als das sozialistische Experiment «Sowjetunion» Schiffbruch erlitt.
«Die Staatskasse war leer», heisst es im Roman. «Auch Nastja bekam ihr Gehalt immer seltener, … den letzten Lohn überreichte man ihr … in Form eines kleinen Sackes Reis.»
Nastja entschloss sich zu migrieren und gelangte nach Berlin. Dort begann für Nastja eine nicht mehr endende Zeit des Leids, der Würdelosigkeit und der Ausbeutung.
Der Kampf ums Überleben
Einfühlsam schildert Wodin den kräfteraubenden Kampf der zierlichen «Sans-Papiers». Wie sie in die Abhängigkeit einer kriminellen Organisation geriet. Wie sie auf eine Ehe mit einem Deutschen hereinfiel, der ihr das wenige Geld abnahm, das sie verdiente.
Wie sie inmitten der Grossstadt völlig einsam blieb und sich nach einem «Eckchen» sehnte, in dem sie sich zwischendurch wenigstens ein wenig ausruhen könnte: «Mehr hatte sie nie gewollt.»
Im Namen der Namenlosen
Natascha Wodin beleuchtet eine dunkle Ecke vieler westlicher Gesellschaften: ganz ohne Pathos, beinahe nüchtern. Und trifft so die Herzen der Lesenden umso mehr.
Sie macht deutlich, dass es in ihrem Roman nicht nur um Nastja geht, sondern um unzählige Namenlose, die auch heute noch entwurzelt – wie es im Roman heisst – «über den Erdball irren».