«Dream Count» lehnt sich an den Ausdruck «Body Count» an: die Anzahl getöteter Personen im Krieg oder umgangssprachlich die Anzahl der Sexualpartner einer Person. Im Fall von Chimamanda Ngozi Adichies neuem Roman bedeutet «Dream Count» wohl die Anzahl toter oder aufgeschobener Träume – die Träume aller vier Protagonistinnen im Buch.
Anwältin Zikora, die skrupellose Bankerin Omelogor und Reiseschriftstellerin Chiamaka sind enge Freundinnen, die sich aus Nigeria kennen und teilweise in den USA leben. Nicht immer ist alles harmonisch im Trio, sie stehen sich trotzdem nahe, tauschen sich über vieles aus, solidarisieren sich.
So unterschiedlich sie sind, die eine selbstbewusst, die andere unterwürfig, sie alle leben in mehreren Kulturen, sind zumindest nach aussen hin selbstbestimmt und wollen sich von den Erwartungen der älteren Generationen befreien. Kurz: Sie wollen herausfinden, was sie für ein Leben leben wollen. Dabei steht vor allem ein Wunsch im Zentrum, der gleich auch der erste Satz des Romans ist: «Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt.»
Sexueller Übergriff an wahrer Geschichte angelehnt
Die Vierte im Bund ist Kadiatou, die Hauhälterin der Reiseschriftstellerin. Von ihr erfährt man, dass sie bei ihrer Arbeit als Zimmermädchen in einem Luxushotel einen sexuellen Übergriff erlebt. Daraufhin gerät sie in einen gigantischen Wirbelsturm der Boulevardpresse, ihre Aussagen werden infrage gestellt und ihr wird Prostitution angedichtet.
Dieser Übergriff in «Dream Count» ist angelehnt an einen realen Fall, als 2011 – also vor der #MeToo-Zeitrechnung – Nafissatou Diallo den Hotelgast Dominique Strauss-Kahn, damaliger Direktor des Internationalen Währungsfonds der sexuellen Nötigung beschuldigte.
Vier unterschiedliche Leben erzählt
Man begleitet vier Protagonistinnen in vier Erzählsträngen, erfährt, wie sie aufgewachsen sind, wie sie leben, wie sie lieben. Omelogor stellt im Roman immer wieder die Frage an ihre Freundinnen: «Wo hast du gelernt, was du über Sex weisst?». Diese Frage treibt sie um, vor allem, weil sie glaubt, die Pornoindustrie und die Bilder, die sie vermittle, habe einen zu grossen Einfluss auf das Sexualleben von zwei Menschen.
Von brutalen Szenen wie der Beschneidung von Kadiatou in Guinea hin zu noblen Dinnerpartys in Nigeria, einem Afro-Friseursalon in Washington DC und einer Sexparty für Frauen: Chimamanda Ngozi Adichie webt einen Kosmos zusammen, packt grosse Themen unserer Zeit in alltägliche Dialoge ihrer Protagonistinnen und wirkt nicht belehrend. So erfährt man sehr viel, über Macht, Geld, Rassismus, Politik, Mütter, Töchter und aufgeschobene Träume.
Ein grosses Buch, im Umfang wie im Inhalt.