Nora ist eine ehemalige Instagram-Influencerin, die sich aus dem Betrieb zurückziehen will und darum fernab der Gesellschaft in einem verlassenen Strandkino Unterschlupf sucht. Zwischen den Stuhlreihen richtet sie sich eine neue Lebensrealität ohne den Druck der sozialen Medien ein. Sie ernährt sich von den Tauben, die im Kino herumschwirren.
Der einsame Stalker
Andreu ist Seniorenpfleger und frustriert mit seinem Leben. Er leidet unter Vereinsamung und verbringt den ersten Teil des Romans damit, eine dekadente Alte auf ihrer Kreuzfahrt um die Welt zu begleiten.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Halbtags ist er eine menschliche Krücke, halbtags lungert er masturbierend auf Instagram herum, wo er ein glühender Fan von Noras Profil ist. So glühend, dass er wegen seiner belästigenden Nachrichten bereits als Stalker verurteilt wurde.
Ein Pilz als Erzähler
An dieser Stelle ist Schluss mit konventionellem Romanmaterial. Plötzlich schaltet sich die Erzählinstanz ins Geschehen ein. Sie spricht ihr Publikum in der «Wir»-Form an. Schnell wird klar: Diese Geschichte wird von einem Pilz erzählt. Er hat die Gehirne aller Figuren befallen und weiss bestens Bescheid über sie.
In der Folge entspinnt sich ein irrer Mix aus Utopie, Dystopie, Gesellschaftsroman und Gruselgeschichte. Benjamin von Wyls Erzählpilz hat ein Ziel: Die ganze Welt soll vernetzt sein. Schluss mit dem «Individudumm». Wie im Titel des Romans «eine einzige Welt» soll es sein. Eine Welt, in der alles aufeinander abgestimmt, alles zum Wohl des grossen «Wir» eingerichtet ist.
Vision einer besseren Welt
Das Pilznetzwerk ist dabei viel mehr als eine weitere abgegriffene Internet-Metapher. Es benutzt nämlich das Internet selbst als Mittel zum Zweck. Über den Instagram-Account der Ex-Influencerin Nora lockt es immer mehr traurige Einzelexistenzen wie Andreu in seine Fänge im Strandkino.
Verblüffender Nebeneffekt: Der Pilz erlernt im Verlauf der Erzählung immer besser, wie die Sprache und das Erzählen funktionieren, je mehr Menschen er befällt – und das spiegelt sich direkt in der Sprache des Romans.
Immer häufiger spricht der Pilz sein Publikum direkt an. Die Erzählung von Andreus abenteuerlichem Weg zu Nora ist eine Propagandaaktion des Pilzes. In seinem Grössenwahn will er uns beim Lesen klarmachen, wie famos seine Vision einer einzigen Welt auch für uns sein könnte.
Dabei stellt sich das beklemmende Gefühl ein, dass wir schon heute nicht mehr so weit von der Welt entfernt sind, die von Wyl in seinem Roman beschreibt. Ein grosser Krieg muss stattgefunden haben, auf dem Festland greift eine Krankheit um sich. Die Menschen leben nur für Geld, Ruhm oder Klicks im Internet, für Luxuserlebnisse wie Fleischessen müssen Termine vereinbart werden.
Ein Roman, der viel wagt
Aus dieser Düsternis will das Pilzgeflecht uns befreien. Doch was aus seiner Sicht die bestmögliche Welt sein mag, entpuppt sich als totalitäre Vision: Ein übergeordneter Organismus bemächtigt sich unseres Bewusstseins und übernimmt die Kontrolle über die Welt.
Benjamin von Wyls Roman «In einer einzigen Welt» ist in seiner Form und in seiner Sprache einzigartig. Er wagt viel und verflicht die Ebenen von Gesellschaftskritik, Dystopie und Sprachspiel gekonnt. Dass das Resultat davon eine gewisse Verworrenheit besitzt, liegt auf der Hand. Bei einem Roman über ein Pilzgeflecht ist das eindeutig als Teil des Programms zu verstehen.