Virginie Despentes hatte lange den Ruf, die Punkrockerin der französischen Literatur zu sein. Auch der Titel ihres neuen Romans «Liebes Arschloch» wirkt auf den ersten Blick gewohnt aggressiv und direkt, zugleich aber auch versöhnlich.
Spätestens seit ihrer Romantrilogie «Vernon Subutex» um den gleichnamigen Plattenhändler gilt Despentes als eine der grossen Literatinnen Frankreichs. Wenn es um die wunden Punkte der Gesellschaft geht, hat sie für viele inzwischen mehr zu bieten als Michel Houellebecq. So bestimmte «Liebes Arschloch» im vergangenen Herbst die französische Debatte.
In ihrem Briefroman durchleuchtet die Autorin einen fiktiven MeToo-Fall. Zugleich handelt das Buch von der Pandemie, dem Älterwerden und von Freundschaft und Abhängigkeit.
Von der Vergangenheit heimgesucht
Im Zentrum steht der verbale Schlagaustausch zwischen Schriftsteller Oscar und Rebecca, einer berühmten Schauspielerin. Beide sind etwas in die Jahre gekommen und laborieren auf ihre Art mit Drogenproblemen herum.
Oscar befindet sich mitten in einem Skandal: Zu Beginn seiner Karriere hat er die Verlagsangestellte Zoe sexuell belästigt. Diese ist inzwischen eine reichweitenstarke feministische Aktivistin und erhebt in den sozialen Medien Anklage.
Oscar lässt seinem Frust über die Anschuldigungen freien Lauf. In diesem Kontext äussert er sich auch abfällig über das Aussehen der gealterten Diva Rebecca. Diese bekommt das zu lesen und antwortet ihm: «Liebes Arschloch» – so lautet die titelgebende Anrede in ihrer ersten Mailbotschaft.
Niemand wird geschont
Die beiden kennen sich seit ihrer Jugend und haben sich ins kulturelle Establishment hochgearbeitet. Nun stecken sie in einer Lebenskrise, blicken voller Wut und Hass auf andere und sich selbst. Im Laufe ihres Austauschs, der über weite Strecken in der Einsamkeit des Lockdowns stattfindet, entwickeln die beiden eine Freundschaft.
Immer wieder eingestreut sind auch die Posts der jungen Netzfeministin Zoe. Dies gibt Despentes die Möglichkeit, über verschiedene Arten des Feminismus zu schreiben. Dabei schont sie niemanden. Weder die Vertreterin ihrer eigenen Generation, Rebecca, die selbst erst spät zum Feminismus gefunden hat, noch die Vertreter einer jüngeren Generation wie Zoe mit ihren wesentlich grösseren Sensibilitäten.
Virginie Despentes zeichnet in ihrem Roman niemanden sympathisch. Dabei hat sie Opfer und Täter gleichermassen im Blick. Überraschend viel Raum räumt sie dem MeToo-Täter Oscar ein. Dieser hat mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Widerstand der Frauen. Doch im Laufe des Briefwechsels darf er – wie alle anderen «Arschlöcher» in diesem Roman – den Lesenden fast ans Herz wachsen.
Ein Plädoyer für Zwischentöne
Der Roman lebt von seinem grossen Sprachwitz und seiner zupackenden Direktheit. Despentes verleiht vor allem der Figur der Rebecca eine kunstvolle Schnoddrigkeit, die einen vom ersten Moment an einnimmt. Wie der Erfolg in Frankreich zeigt, gelingt es der Autorin, mit ihrer Literatur die unterschiedlichsten Gruppen anzusprechen.
Die Punkliteratin ist milder geworden. Es geht ihr um Annäherung, um Vermittlung. Man darf das Buch – trotz aller Härte und Direktheit – als Plädoyer für Zwischentöne in den Debatten unserer Zeit lesen.