Sabahattin Ali wurde 1907 in Gümülcine geboren, eine von Türken, Bulgaren und Griechen bevölkerte Stadt am Südrand der Rhodopen, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs griechisch wurde. Der Sohn eines Offiziers wuchs an wechselnden Orten im Westen des Osmanischen Reiches in schwierigen Familienverhältnissen auf.
In den 1920er-Jahren liess er sich in Balıkesir und Istanbul zum Lehrer ausbilden, veröffentlichte erste Gedichte und Erzählungen und unterrichtete auf dem Land. Von 1928 bis 1930 studierte er in Potsdam und Berlin und arbeitete danach an verschiedenen Orten in der Türkei als Deutschlehrer.
Zu keiner Ungerechtigkeit schweigen
Schon in seinen ersten Texten zeigte sich Sabahattin Ali als einer, der zu keiner Ungerechtigkeit schweigen konnte. Durch die Veröffentlichung von Erzählungen in einer Zeitschrift im Umfeld des Dichters Nâzım Hikmet war er in Kontakt zu kommunistischen Kreisen gekommen und nahm nie ein Blatt vor den Mund, wenn es um Sozialkritik ging. Das brachte ihm 1931 eine Anklage wegen kommunistischer Propaganda ein, 1932 wurde er zu einem Jahr Haft wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verurteilt.
Je erbitterter die Grabenkämpfe in der jungen türkischen Republik geführt wurden, desto brutaler geriet Sabahattin Ali ins Räderwerk des rechtsnationalen Regimes. Zwischen 1939 und 1945 hatte er zwar in relativer Ruhe als Assistent des exilierten deutschen Opernregisseurs Carl Ebert am neu gegründeten Staatlichen Konservatorium in Ankara arbeiten können. Doch nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst gelang es ihm nicht, sich eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen.
Die von ihm und dem jungen Aziz Nesin herausgegebene Satirezeitschrift «Marko Paşa» wurde schon Ende 1946 verboten, zusammen mit der sozialistischen Partei und allen ihr nahestehenden Zeitungen und Zeitschriften. Nach neuerlichen Haftstrafen, zermürbt von Zensur und Verfolgung, soll Ali 1948 versucht haben, über die türkische Grenze nach Bulgarien zu fliehen.
Den Mächtigen die Leviten lesen
Als man am 2. April 1948 seine übel zugerichtete Leiche in der Ortschaft Kırklareli nahe Bulgariens fand, war ein Schuldiger schnell gefunden: ein angeblicher Fluchthelfer, der nur symbolisch bestraft und vom Regime später mit einer protzigen Villa belohnt wurde.
Bis heute ist der Mord an Sabahattin Ali nicht aufgeklärt, obwohl sein einziges Kind, Tochter Feliz, noch lebt und es nach der Wiederauflage von Alis Werken ab 1965 zahlreiche, auch parlamentarische Vorstösse gab, Licht ins Dunkel der Angelegenheit zu bringen. Man vermutet heute, dass Ali unter der Folter der türkischen Geheimpolizei starb und diese die Leiche dann an die Grenze brachte, um den Foltertod zu vertuschen und stattdessen einen Mord durch den angeblich räuberischen Fluchthelfer zu fingieren.
Sabahattin Ali hatte sich nie um die Spitzel der Regierung gekümmert, die in seinem grossen Freundes- und Bekanntenkreis kursierten. Als er in einer Erzählung des Bandes «Sırça Köşk» («Der Kristallpalast») von 1947 einen aus dem Gefängnis Entlassenen von der Folter berichten liess – was grosses Aufsehen erregte – und dann auch noch einen Ankara-Roman ankündigte, in dem er der erstarrten Elite rund um den Staatsgründer Mustafa Kemal gründlich die Leviten lesen wollte, war das Mass offenbar voll und Ali zum Abschuss freigegeben.
Verfemt und wiederentdeckt
Bis 1965 durften Sabahattin Alis Bücher in der Türkei nicht erscheinen. Trotzdem ist 70 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung Alis letzter Roman von 1943, «Die Madonna im Pelzmantel» («Kürk Mantolu Madonna»), eines der meistgelesenen Bücher in der Türkei. Verwunderlich ist das nicht, denn Sabahattin Ali erzählt immer noch aktuelle Geschichten und hält damit auch der heutigen Türkei, und übrigens nicht nur ihr, einen Spiegel vor.
Der eigentliche Zauber von Alis drei Romanen, seinen fünf Erzählbänden, den Gedichten und Artikeln liegt aber nicht in der luziden Sozialkritik. Vielmehr ist es die tiefe Humanität in der Analyse menschlicher Befindlichkeiten. Noch die nebensächlichste Figur vermag Sabahattin Ali mit ein paar hingetupften Sätzen in ihrer ganzen Komplexität zum Leben zu erwecken.
Schillernd, fliessend, ganz ungezwungen multiperspektivisch sind auch Sabahattin Alis Erzählkonstruktionen. Und seine Sprache wirkt verblüffend modern, vielleicht gerade weil Ali sich dem Diktat der fanatischen Neusprachler nicht beugte, die nach der Gründung der Republik 1923 alle Spuren des Osmanischen, also die arabischen und persischen Einflüsse, aus dem Türkischen getilgt haben wollten.
Wider alle Scheuklappen
Durch seine Ausbildungsjahre in Berlin, durch seinen unstillbaren Lesehunger, durch seine Sonderstellung als Deutschlehrer, später auch als Dolmetscher und Übersetzer, hatte Sabahattin Ali Zugang zur westlichen und zur orientalischen Kultur. Er liess beide Welten gleichermassen gelten und nutzte seinen Horizont für kritische Vergleiche. Scheuklappen waren nicht seine Sache.
Und so hat er etwa, gerade in seinen Romanen, Männer und Frauen erfunden, die damals, nicht anders als wir heute, auf ihre eigene, individuelle Weise in einer komplexen Welt ihren Platz zu finden versuchten.