Sappho spricht an, was alle, die schon mal verliebt waren, kennen, aber in der Regel nicht so schön und treffend zu formulieren vermögen: «Und Eros hat mir durchgeschüttelt die Sinne, wie ein Sturm, wenn er im Gebirge in die Eichen fährt.»
Sapphos Texte frappieren auch zweieinhalb Jahrtausende, nachdem sie entstanden sind. Das geliebte Wesen ist in ihren Gedichten schöner als alle Macho-Prestigeobjekte.
Die einen sagen: ein Heer von Reitern, die andern: von Fusssoldaten, andere wiederum: von Schiffen sei auf der schwarzen Erde das Schönste – ich aber sage: das, wonach sich einer in Liebe sehnt!
Poesie über die Liebe zu Frauen
Sappho wurde um 630 vor Christus geboren und wirkte auf der Insel Lesbos. Als Frau besang sie ihre Liebe zu Frauen – und das Wort «singen» ist hier nicht Schwulst, sondern passend: Sapphos Gedichte waren als Lieder gedacht. Wie das geklungen hat? Wir können es uns heute nicht mehr vorstellen.
Überhaupt wissen wir wenig über sie, wie der Basler Altgriechisch- und Sappho-Spezialist Anton Bierl erklärt: «Es gibt wenige Quellen. Man hat eigentlich nur Namen aus ihrer Familie, die genannt werden, das ist die übliche biografische Tradition.»
Einiges ist hingegen bekannt über Lesbos: Es war eine Zeit des Umbruchs und der Bürgerkriege. Sappho musste mit ihrer Familie ins Exil gehen. Nach der Rückkehr gründete sie den Sapphischen Kreis, der sie berühmt machte und auf den im Lauf der Jahrhunderte viele Fantasien projiziert wurden.
Mythos, Tanz und Musik
«Was dieser Kreis überhaupt ist, wurde lange Zeit heftig diskutiert», sagt Anton Bierl. «Früher sprach man von Mädchenpensionat und Musenschule – auf jeden Fall hat es mit Erziehung zu tun.»
Sappho habe als Aristokratin junge Mädchen aus den umliegenden Inseln und vom Festland gesammelt, die dann umfassend in Mythos, Tanz und Musik ausgebildet wurden. «Ausbildungsinhalt ist die Schönheit, und die erreicht man über alle Sinne. Dabei spielen homoerotische Spannungen mit: Offensichtlich waren sie ein Momentum, um das Sensorium für die Schönheit zu steigern.»
Vielleicht kann man sich den Kreis wie einen Chor vorstellen, mit Sappho als Chorführerin. Chöre hatten in archaischer Zeit zunächst die Funktion, junge Menschen, Mädchen und Buben, beim Übergang ins Erwachsenenleben zu begleiten und ihnen das nötige Wissen mitzugeben.
In Sapphos Fall zielte diese Erziehung auf Eleganz und Raffinement: Das waren die Werte ihres Clans. Der famose Mädchenkreis war wohl auch eine Art weibliches Netzwerk, betont Bierl.
Eine skandalöse Muse
All das prädestiniert Sappho zur Symbolfigur und zur Chiffre für moderne Bewegungen wie etwa den Feminismus, die Queer Culture und das weibliche Dichten. Schon in der Antike galt sie als überragend. Platon soll sie neben den neun bekannten Musen als die zehnte bezeichnet haben.
Schon in der Antike war sie skandalös. Manche wollten sie zweiteilen und die Lyrikerin von der Lesbe abspalten.
Selbstbewusste Sängerin, unglückliche Liebende, aristokratische Networkerin – je mehr man sich mit Sappho befasst, desto faszinierender erscheint sie.