Die Werke des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin treffen 35 Jahre nach dessen Tod noch immer den Nerv der Zeit. Auch sein frühes Werk «Von einem Sohn dieses Landes» ist mit seinem Nachdenken über Rassismus und seiner Suche nach Identität hochaktuell.
Nun ist die Essay-Sammlung in einer Neuübersetzung erschienen. Das Vorwort hat die Autorin Mithu Sanyal («Identitti») geschrieben. In Baldwin sieht sie einen Bruder im Geiste, der mit seinen Büchern seiner Zeit weit voraus gewesen sei.
SRF: In Ihrem Vorwort schreiben Sie, man könne James Baldwin nicht lesen, ohne zu weinen. Warum weinen Sie selbst?
Mithu Sanyal: Weil seine Texte mich direkt berühren, ohne Umwege über den Kopf, und ich ihn direkt emotional verstehe. Das hat viel damit zu tun, dass er so stark darum gekämpft hat, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten.
Liebe war etwas für weisse Menschen.
Zu Baldwins Zeit wurde es gerade Schwarzen nicht leicht gemacht, sich selbst und andere zu lieben. Liebe als begrenzte Ressource war etwas für reiche und weisse Menschen. Da einen Weg zu finden, kostete Baldwin viel Kraft. Seinen Texten merkt man das aber nie an, sie sind unglaublich leicht.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Gerade aus «Von einem Sohn dieses Landes» wird bis heute immer wieder zitiert. Dabei war Baldwin 31, als er die Essaysammlung veröffentlichte. Unglaublich, oder?
Dass Baldwin so jung war, haut mich auch immer wieder um. Gleichzeitig schreibt er über das, was er weiss. Die Essays seien seine Autobiografie, sagte er.
Das stimmt nicht ganz, weil er vieles ausspart. Es ist seine schriftstellerische Autobiografie – man kann nachlesen, wie er sich ins Leben schrieb, wie er eine eigene Stimme fand.
Interessant ist, dass er dabei Mass an einem Meilenstein der afroamerikanischen Literatur nimmt und ihn ziemlich kritisch sieht. Was stört Baldwin an Richard Whites «Native Son»?
Er weist darauf hin, dass Whites Roman den Rassismus nur umdreht: Entweder überhöht er Schwarze oder er lässt sie als Opfer untergehen. Baldwin fand, man müsse nicht um Rechte kämpfen, sondern einfach leben, was viel schwieriger ist. Er wollte mehr als nur die Gegenfolie.
Wie sahen Baldwins Vorstellungen jenseits von Dogmen und Rollen denn aus?
Diese Essays sind so gegenwärtig, weil sie uns auffordern, nicht einfach nur zu reagieren, sondern eigene Wege zu finden. Baldwin geht es immer um die Utopie. Es geht ihm um die Frage, wie wir wirklich gut leben können, was wir auch noch sein können, wohin wir eigentlich wollen und was Versöhnung bedeuten könnte.
Die Essays in «Von einem Sohn dieses Landes erzählen sehr unterschiedliche Geschichten. Wo sehen Sie den gemeinsamen Nenner?
Der wichtigste gemeinsame Nenner ist für mich Baldwins Einsatz für «Love Politics». Er war der Meinung, dass in der Gestaltung der Gesellschaft alle Amerikanerinnen und Amerikaner wie Liebende aufeinander schauen müssten.
Hass war für ihn emotionaler und geistiger Selbstmord.
Dabei relativierte er weder die Verbrechen an den Schwarzen noch seine eigenen Ambivalenzen. Schliesslich aber fühlte er sich durch den Rassismus in den USA zusehends in den Hass getrieben. Hass war für ihn emotionaler und geistiger Selbstmord. Also ging er nach Frankreich ins Exil.
Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.