Die Zeiten des Hedonismus sind vorbei. Der Mensch hat keinen freien Willen mehr. Die Gesellschaft funktioniert nach strikten Gesetzen – auch die Fortpflanzung ist klar geregelt. Jeder Widerstand gegen die Norm hat Konsequenzen. Der Staatsmacht entgeht nichts. Die Bevölkerung wird rund um die Uhr überwacht, alles Fremde abgeriegelt. Menschlichkeit und Empathie sind als Werte längst abhanden gekommen.
Die Innerschweizerin Martina Clavadetscher entwirft eine dystopische Zukunftsvision unseres Landes und schont ihr Publikum dabei nicht; ihre «Knochenlieder» gehen sprichwörtlich unter die Haut.
Diesen Effekt verdankt der Roman aber nicht primär dem Inhalt, sondern auch der Form: Die Autorin vermischt raffiniert Prosa und Lyrik und setzt den an Science-Fiction erinnernden Passagen immer wieder Elemente aus Märchen und Mythen entgegen.
Eine ungewöhnliche Familiensaga
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei Familien. Wir verfolgen ihr Schicksal über rund sechs Jahrzehnte – beginnend ab 2020. Aber wer eine chronologische Handlung erwartet, wird enttäuscht. Denn Martina Clavadetscher erzählt nicht linear, sondern arbeitet mit Bildern, Fragmenten, Eindrücken. Sie fordert ihr Publikum heraus, lässt Sperriges auch stehen. Und genau dies macht ihren Text auch so speziell.
Da ist zum Beispiel das Mädchen Pippa, das sich mit Mut und Unerschrockenheit gegen die starre, gefühlskalte Welt stemmt, obwohl es überall an Grenzen stösst.
Der Zaun leistet Widerstand.
Der Zaun umschliesst das Camp A2
Und der Zaun tut, was ein Zaun tut:
Er trennt innen von aussen – und umgekehrt.
Aussen, das sind Pippa und die anderen.
Innen, das sind die Siedler von Camp A2.
Das sind über zwanzigtausend Unregistrierte,
vom Ausnahmestaat nicht zuzuordnen,
nicht einzugliedern, oder –
wie man in bestimmten Kreisen
und hinter vorgehaltener Hand sagt –
nicht zu gebrauchen.
Diese Zeilen über den Zaun hat Martina Clavadetscher bereits 2015 zu Papier gebracht; mittlerweile wurde ihre düstere Vision bereits Realität: Donald Trump hat die Welt mit seiner Zaun-Idee überrumpelt. Und vor diesem Hintergrund erhalten die «Knochenlieder» eine zusätzliche unheimliche Dimension. Denn wir realisieren beim Lesen: was Martina Clavadetscher als Szenario von morgen skizziert, kann uns zum Teil schon heute einholen.
«Ein Buch der Hoffnung»
Martina Clavadetscher, die auch schon als Dramatikerin erste Erfolge feiern konnte, verfügt über eine hohe Sprachkompetenz. Mal verdichtet sie ihre Sätze, mal lässt sie die Worte fliessen. Und so gelingt es ihr, die Kälte ihrer Geschichte doch immer wieder aufzubrechen. Denn in der Anstrengung ihrer Figuren, noch das Letzte zu retten, was eine lebenswerte Gesellschaft ausmacht, steckt auch eine gewisse Zuversicht.
«Angst ist ein schlechter Ratgeber», sagt die Autorin selber, und möchte ihre «Knochenlieder» durchaus auch als ein «Buch der Hoffnung» verstehen. Denn trotz pausenlosem Ausnahmezustand sind die Menschen nicht total voneinander zu isolieren: «Es gibt immer Dinge, die sie untereinander verbinden.»