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Ein Mann liegt auf einem grauen Sofa und liest.
Legende: Weinen oder lachen? Bei Dana Grigorceas Werken weiss man oft nicht, nach was einem zumute ist. SRF / Oscar Alessio

Schweizer Buchpreis Dana Grigorcea erzählt im Märchenton von Kindern einer Diktatur

Das ist der Roman einer Stadt, die Geschichte einer Rückkehrerin und das Porträt einer Generation. Mit ihrem zweiten Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» macht die 36-jährige Dana Grigorcea klar: Sie ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Literatur.

Wenn die Erzählerin Victoria durch Zürich geht, wähnt sie sich plötzlich in Bukarest. Und wenn sie sich in Bukarest herumtreibt, dann genügt oft ein Blick, ein Ton, ein Geruch, und schon ist sie in Zürich.

Was ist eine Stadt?

Wie jede Stadt erzählt Bukarest zunächst seine eigene Geschichte, wenn man sie so kenntnisreich zu entschlüsseln weiss wie Dana Grigorcea. Der Marmor der Banken berichtet von der Anmassung des Nachwende-Kapitalismus. Die Protzbauten im Zuckerbäckerstil künden vom Irrsinn der kommunistischen Ceausescu-Diktatur. Ein Arcul de Triumf beschwört das frankophile Vorkriegs-Bukarest der Königszeit herauf.

Vor allem aber erzählt Bukarest der verlorenen Tochter Victoria, die nun aus Zürich zurückgekehrt ist, Geschichten aus der Kindheit. Eine Stadt besteht eben in erster Linie aus den Geschichten, die wir mit ihr verbinden.

Audio
Lesung aus «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit»
02:01 min Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 1 Sekunde.

Drei Generationen

Victoria, die Erzählerin, ist eine enge Verwandte der Autorin. Sie gehört zur Wendegeneration, die ihre Kindheit noch in der kommunistischen Diktatur verbracht hat.

Und Dana Grigorcea gelingt das Kunststück, die beiden Aspekte, Kindheit und Diktatur, im Gleichgewicht zu halten. Da ist das «primäre Gefühl der Schuldlosigkeit», das Glück der Kindheit, das Paradies der Spiele, die Seeligkeit in den Armen der Mutter. Da ist aber auch: die Brutalität der Schule, die alltägliche Angst und das Misstrauen aller gegen alle, die Verstrickung in ein System, das jeden schuldig werden lässt. Victorias Jugendfreunde verkörpern typische Möglichkeiten dieser Wendegeneration: Codrin ist der Musterschüler und Anpasser. Dinu ist der lebens- und anerkennungssüchtige Abenteurer (Nachwendeberuf: Stuntman).

Seltsam abwesend sind die Eltern, erzogen wurde die Übergangsgeneration von den Grosseltern: Vorkriegsbourgeoisie mit Horizont, Kultur und Klassendünkel. Da ist die Grossmutter Mémé, die sich als erste Bukaresterin in kurzem Rock ablichten lässt, und «die Hübsche», heute Zeitungsverkäuferin, früher die edle «Remailleuse», die Flickerin von Laufmaschen in Strümpfen.

Eine typische Grigorcea-Geschichte

Nenea Sandu ist im Roman wie im Leben eine Nebenfigur. Einmal bricht der brave kleine Mann aus seinem langweiligen Leben aus. Unter dem Vorwand einer Geschäftsreise bleibt er für drei Tage bei seiner Geliebten, die im selben Haus wohnt wie Nenea Sandu und seine Gattin. Hilfsbereit leert er am Abend den Mülleimer der Geliebten, täuscht sich aber in der Wohnung und steht mit dem geleerten Mistkübel der Geliebten in der Wohnung seiner Frau. Die Rache der Gattin ist fürchterlich. Er bezahlt seinen Irrtum mit dem Leben.

Unverwechselbarer Märchensound

Buchhinweis

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Grigorcea Dana: «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit», Dörlemann, 2015.

Bei Dana Grigorcea weiss man oft nicht, ob man lachen oder weinen soll. Die Autorin sieht das Komische im Tragischen. Sie erzählt von seltsam verrutschten, grotesken Verhältnissen. Ihre Sprache hat einen ganz eigenen Märchenton. Ein scheinbar naives Lächeln ist ihr eingeschrieben. Eine versöhnlich milde, idyllische, manchmal operettenhafte Stimmung breitet sich aus, in der aber die angedeuteten Grausamkeiten und Bosheiten umso eindrücklicher wirken.

Grigorcea erzählt lakonisch, bricht oft im entscheidenden Moment ab. Sie ist eine der stärksten Sprachgestalterinnen der deutschen Gegenwartsliteratur.

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