Vincenzo Todiscos Roman «Das Eidechsenkind» steht auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis, der am 11. November verliehen wird.
Was diese Geschichte, die von einem illegal in der Schweiz lebenden Kind erzählt, vor allem auszeichnet, ist, wie behutsam und leicht Todisco den schweren Stoff literarisch umsetzt.
Der Anfang des Romans ist beklemmend. Vincenzo Todisco führt uns ganz nah an seinen Protagonisten heran. An dieses Kind, das mit seinen Eltern aus Süditalien in die Schweiz gekommen und nun den ganzen Tag in der kleinen Wohnung eingesperrt ist.
«Das Kind macht zuerst das linke, und dann das rechte Auge auf. Es hat den Kopf an zwei Orten. Einmal in Ripa, wo ihm nichts geschehen kann, und einmal in der Wohnung, wo es die Schritte zählen muss.»
Die Schritte zählen muss das Kind nicht nur, um sich die Zeit zu vertreiben, sondern weil es ganz schnell verschwinden muss, wenn jemand kommt. Unter der Bank, hinter dem Vorhang, im Schrank.
Wie eine Eidechse
Die Perspektive, die Todisco für diese Geschichte gewählt hat, wirkt auf den ersten Blick gnadenlos. Aus nächster Nähe wird das Kind beobachtet, und wir müssen hautnah erfahren, was es bedeutet, im Versteckten zu leben: Einsamkeit, Angst, und über die Jahre auch seelische und körperliche Verkümmerung. Das Kind wird zum Tier.
«Auf dem Schrank in der Stanza in fondo hat das Kind die gestapelten Kartonschachteln etwas nach vorn geschoben und sich dahinter eingenistet. Sich dünn zu machen, den Körper erstarren zu lassen, den Atem fast auf null herunterzusetzen, das hat es jetzt alles schon gelernt. ‹Ich bin wie eine Eidechse›, denkt das Kind, ‹sie finden mich nicht!›»
Der perfekte Beobachter
Doch der Roman zielt nicht auf Betroffenheit. Gerade weil wir alles aus der Sicht des Kindes erleben, löst sich die Beklemmung bald auf. Denn das Kind weiss nicht, wie dramatisch seine Situation ist.
Es richtet sich ein und entwickelt Strategien gegen Angst und Einsamkeit. Als Eidechse fühlt es sich sicher. Es beginnt, im Haus herumzuschleichen, es kann sogar unbemerkt in die Wohnungen der Nachbarn eindringen.
Es kommt zu Begegnungen, es entwickeln sich Beziehungen, vor allem aber wird das Kind durch seine Unsichtbarkeit zum perfekten Beobachter.
Schweizer Realität
Dieser Beobachter gibt uns einen intimen Einblick in das tägliche Leben der italienischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in den 60er- und 70er-Jahren. Der Roman erzählt so auf originelle Weise ein Stück Schweizer Migrationsgeschichte.
Dass sich Vincenzo Todisco für diese Geschichte interessiert, hat biografische Gründe: Auch seine Eltern sind in den 60er-Jahren aus Italien eingewandert. Er selbst ist 1964 in Stans geboren und von Anfang an zweisprachig aufgewachsen.
Erster Roman auf Deutsch
Vier Romane und einen Erzählband hat Vincenzo Todisco auf Italienisch veröffentlich. «Das Eidechsenkind» ist sein erster Roman auf Deutsch.
Doch thematisch schliesst er an die letzten beiden Romane an: Schon in «Der Bandoneonspieler» und «Rocco und Maritimo» beschäftigte er sich mit der Geschichte der italienischen Gastarbeiter.
Mit dem Roman «Das Eidechsenkind» zeigt er nun, dass er auch auf Deutsch seine eigene, literarische Sprache gefunden hat.