Jeff VanderMeers jüngster Roman «Borne» beginnt dort, wo alles endet. Geblieben sind den letzten Menschen nur die verdorbenen Reste der Zivilisation: vergiftete Flüsse, Stadtruinen, Industriemüll.
Nahrung ist rar und ohnehin ist man selbst weniger Jäger als Beute. Bewohnt und beherrscht wird diese Welt nämlich von Monstern, insbesondere vom Ungeheuer namens «Mord», einem flugfähigen Riesenbären, der zugleich noch ein Killerkommando, die sogenannten «Mord-Proxys» befehligt.
Überleben in der Endzeit
In dieser Kulisse eingerichtet haben sich Wick und Rachel. Gemeinsam bewohnen der Experte für «Biotech» und die einst von einer Pazifikinsel aufs Festland Geflohene (so glaubt sie zumindest) ein Höhlensystem, von dem aus sie Tag für Tag ihre Suche nach dem Lebensnotwendigen beginnen.
Bei einer dieser Expeditionen stösst Rachel auf ein merkwürdiges Ding in der Form einer faustgrossen Seeanemone – und nimmt es mit nach Hause. Das Ding aber lebt, Rachel gibt ihm den Namen «Borne». Aus der Paargemeinschaft wird unversehens ein Leben zu dritt.
Irrungen, Wirrungen
Die Geschichte der hierauf einsetzenden Verwirrspiele, Verheimlichungen und Entdeckungen, Zerwürfnisse und Versöhnungen bildet das Rückgrat dieses Romans.
Seine Innovation besteht indessen darin, die Liebe dieser beiden Menschen durch ein Medium zu erzählen, das wie kein Zweites die Ängste und Sehnsüchte der Beteiligten zum Ausdruck bringt.
Weder Mensch noch Maschine
Natürlich ist Borne ein klassisches Es-Geschöpf. Stetig wandelt es seine Gestalt und bleibt zugleich doch immer Fetisch, ein Wesen von massiv erotisch aufgeladener Körperlichkeit, dessen Haut immer wieder berührt, beschrieben, verletzt und versorgt werden muss.
Unterdessen lernt Borne schnell. Nicht nur das Sprechen und das Lesen: Als Manifestation des Unbewussten saugt es unterschiedslos nützliches und vermeintlich unnützes Wissen auf, findet immer neue Erscheinungsformen und bleibt immer auf der Suche nach sich selbst.
Ein wundersames Wesen
Borne verschlingt seine Umgebung – ganz wortwörtlich. Es tötet. Und alles, was es tötet, verbleibt in ihm und lebt und spricht in ihm fort.
Man kann sich der Faszination, die von diesem Charakter ausgeht, nur schwerlich entziehen. Selten hat man in der jüngeren Literatur ein lebendigeres, liebenswürdigeres und abgründigeres Abstraktum umherwandeln sehen.
Panorama der Postapokalypse
Auf seinen Wegen kollidiert es allerdings mit dem dystopischen Panorama, von dem auch bereits Vandermeers Southern Reach-Trilogie zehrte.
Wurden dort die Figuren und ihre Handlungen noch ganz und gar durch den ihnen zugewiesenen Raum (die «Area X») begründet und legitimiert, so droht in «Borne» dieser Hang zum topographischen Erzählen und zur epischen Szenerie die eigentliche Trouvaille leider zu verschütten.
Die Katastrophe im Kleinen
Das berührende Geheimnis dieses Textes liegt eindeutig in der Verdichtung des Untergangs: Die Unschuld der vernichteten Welt erhält eine Stimme und ein Bewusstsein.
Die Monumentalität der Katastrophe wird privat, wird zum Kind, zum aufbegehrenden Jugendlichen, zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus, stellt Sachen an, imitiert Mutter wie Vater, sehnt sich nach dem verlorenen Zuhause, rettet die Mutter, die es alsbald verstossen wird.
Die Postapokalypse verwandelt sich durch Borne in eine Allegorie des Familiendramas. Das ist gross und auch bis zum Ende, das die Familie dann als einzig überlebende Institution wiederherstellt, konsequent durchgeführt.
Ein Hang zur ausufernden Epik
Indem der Roman aber zugleich immer wieder den Blick auf die grosse Bühne lenkt, auf welcher neben dem eingangs bereits erwähnten Flugbären Mord sich unter anderem noch eine «Magierin» mit einer Division Mutantenkinder herumtreibt, etabliert er eine Parallelgeschichte, unter deren Gewicht die fein gewirkte Figurenpsychologie bisweilen zu zerbrechen droht.
Vieles, was im Schatten zur Atmosphäre und zur Konturierung des fantastischen Kammerspiels beigetragen hätte – die Vorgeschichte der Figuren, die Bedeutung der «Firma», überhaupt: die Gefahren dieser Welt –, erscheint in dem Moment, in dem es ans Licht gezerrt wird, als ein nurmehr cineastischer Effekt.
Die Biotech-Bedrohung gegen das unscheinbare Etwas
Mag auch die Biotechnologie in Form von Drogenwürmern und Leuchtwürmern immer wieder in diesen Text hineindrängen und zur Reflexion über eine transhumane Gesellschaft animieren, so führen diese Spuren jedoch nicht in die Tiefe.
Im Gegenteil: Sie nehmen «Borne» sogar etwas von der analytischen Würde, die dem Roman tatsächlich zuzusprechen ist.
Sein Held ist weder auf eine Genealogie angewiesen (die er ihm am Ende leider doch zukommen lässt), noch muss er sich der Bestie Welt in einem biblischen Endkampf stellen.
Denn auch wenn (oder gerade weil) er diesen Kampf für sich entscheiden und schliesslich auch den grossen Bären verschlingen wird, verliert er dabei zweifellos an Grösse. Als ein unscheinbares, flüchtiges, vor sich hinmurmelndes Etwas aber bleibt «Borne» phänomenal.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 27.11.2017, 9:02 Uhr