Victoria Linnea wird stutzig, wenn in einem Manuskript «Du Mädchen!» als Beleidigung vorkommt. Wenn Asiatinnen sich selbst mit «Mandelaugen» beschreiben, oder eine Protagonistin einen schwulen besten Freund hat.
«Ich kann auch zu einem einzelnen Wort einen langen Kommentar schreiben», erzählt die freie Lektorin. Darin könnte dann etwa stehen, dass «Mandelaugen» ein Klischee sind. Dass der Begriff die Andersartigkeit unterstreicht und daher als abwertend empfunden wird. Dass Ostasiaten eher die Form der Lider beschreiben als die der Augen. Und es daher nicht passt, wenn ein Charakter sich selbst so beschreibt.
LGBT, Rassismus, Psyche
Sensitivity Reading nennt sich das, was Victoria Linnea tut. Zusammen mit der Germanistin Elif Kavadar hat sie dazu eine Plattform ins Leben gerufen.
Wenn ein Autor oder eine Verlegerin solche Figuren auf Vorurteile abklopfen, die Wortwahl eines Textes hinterfragen oder den recherchierten Stoff gegenchecken will, kann er sich mit einer Lektorin in Verbindung setzen, die auf das Thema sensibilisiert ist.
Die Expertise der Betroffenen
Sensibilisiert heisse, dass jemand das Thema aus eigener Erfahrung kennt, sagt Victoria Linnea: «Wir wollen, dass die Sensitivity Reader als Expertise nicht nur mitbringen, dass sie sich mit Literatur und den Diskursen auseinandersetzen, sondern dass sie auch selber betroffen sind.»
Es brauche ein gutes Gespür. Meist stecke hinter dem, was plump oder abwertend wirken kann, keine schlechte Absicht. Im Gegenteil: Sie lese oft Texte, die mit gutem Willen Diversität abbilden wollen, aber ungewollt in Klischees verfallen, sagt Victoria Linnea.
Sensitivity Reading bietet also Insider-Wissen, um eine Geschichte glaubwürdig zu machen – und sei es nur, um sich danach Kritik zu ersparen.
Sinnvoll – oder Zensur?
Diese Form des Lektorats stösst vielen sauer auf. Sie sehen dahinter den Anspruch, dass Literatur «korrekt» sein soll – nicht nur im Sinne von realitätsnahe, sondern auch politisch korrekt.
Mara Delius, Literaturkritikerin und Leiterin der «Literarischen Welt», beobachtet die Diskussion besonnen: «Man muss nicht gleich an Orwells ‹1984› denken oder an eine Form von Sprachdiktat. Erst mal ist es ein interessantes Beispiel für eine veränderte Wahrnehmung, wie sie eine gewisse Generation offenbar hat.»
Und diese Generation stelle eben stärker – und durch die sozialen Medien sichtbarer – in Frage, wer wie über was schreiben soll. Darauf reagiere zu Recht auch der Literaturbetrieb.
«Das darf aber natürlich auf keinen Fall heissen, dass sich jetzt deswegen nur noch Leute mit einer persönlich erlebten Geschichte literarisch äussern dürfen. Das wäre komplett absurd – und dann müsste man auch die Hälfte der Werke der Weltliteratur einstampfen.»
Soll. Muss! Kann?
Danach scheint niemandem der Sinn zu stehen – auch nicht Sensitivity Readerin Victoria Linnea: «Es gibt zwar den Schreib-Tipp ‹Schreib was du kennst›. Aber wenn ich dieser Meinung wäre, dann wäre Sensitivity Reading ja nicht zielführend.»
Die Knacknuss bleibt, wie klischeefrei und authentisch Literatur angesichts komplexer Lebenswelten sein soll. Die einen fordern: Sie muss es sein! Andere fragen: Kann sie das überhaupt?
Wer heute Bücher schreibt oder verlegt, kommt wohl nicht darum herum, sich diese Fragen zu stellen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 20.2.20, 17:10 Uhr