«Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füssen. Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere.» Wenn ein solcher Satz schon auf der ersten Seite steht, fragt man sich als Leserin: Was erwartet uns da noch? Die Situation scheint eindeutig: Da wählt eine Frau den Freitod.
Aber wir müssen dann doch den Roman zu Ende lesen, um zu erfahren, ob Manu auf den Beton knallt oder im Sprungkissen landet.
Raffinierte Erzählweise
Simone Lappert erzählt raffiniert, arbeitet mit Cliffhangern, blendet zeitlich vorwärts und zurück. Wir lernen Manu in ihrem früheren Alltag kennen. Sie arbeitet als Gärtnerin und Ökoaktivistin, rettet vernachlässigte Pflanzen. Ihr Freund heisst Finn und jobbt als Velokurier.
Warum Manu plötzlich auf einem Dach herumklettert und wütend Ziegel wirft, wissen wir nicht. Umso stärker wird spekuliert: jedenfalls unten, auf dem sicheren Boden von Thalbach, wo sich bald schon die Schaulustigen versammeln.
Ein Ereignis und seine Folgen
Dahin geht auch primär die Aufmerksamkeit der Autorin: Sie zeigt uns, was das Ereignis bei der Bevölkerung auslöst. Abwechselnd lernen wir rund ein Dutzend Menschen kennen, die in irgend einer Form davon betroffen sind.
Theres und Werner zum Beispiel machen in ihrem Quartierladen – dank den Gaffern – plötzlich Rekordumsätze. Beim Polizisten Felix weckt der Einsatz vor Ort ein altes Kindheitstrauma. Manus Schwester Astrid fürchtet um ihre Politkarriere: Sie will doch unbedingt Stadtpräsidentin werden.
Die Masken fallen
Reihum tauchen wir immer wieder in den Alltag dieser Leute ein, werden Zeuginnen und Zeugen, wenn allmählich die Masken fallen. Denn «diese Verrückte» auf dem Dach lässt auch bei den braven Bürgerinnen und Bürgern so manches Verdrängte hervorbrechen.
Da öffnen sich nicht nur unter der Dachkante Abgründe: Die Frage, wer da psychisch mehr aus dem Tritt geraten ist – jene oben oder jene unten – drängt sich unweigerlich auf.
Gefahr der Karikatur
Simone Lappert reizt das Thema genussvoll aus. Dabei drohen ihre Beschreibungen zuweilen in die Karikatur zu kippen. Ein aufgeblasener Polizeikommandant – der erst noch Blaser heisst – nervt einfach nur. Die Schneiderin Maren, die mit ihrem Geliebten nach Paris abhaut, wirkt unglaubwürdig.
Zuweilen sind gewisse Verhaltensweisen auch psychologisch nicht ganz nachvollziehbar: Warum Manu zum Beispiel ihrem erschrockenen Freund Finn kaum Gehör schenkt, als er liebevoll versucht, sie mit Worten vom Dach runterzuholen, bleibt rätselhaft.
Aber man verzeiht der Baslerin diese Ausrutscher, weil sie packend erzählt, ihrem Stoff vertraut, die Geschichte auch formal gut im Griff hat und den Spannungsbogen bis zum Schluss halten kann.