Solothurner Literaturtage 2014 - All Age-Literatur: Marketing oder Zeitgeist?
Erst fesselten die «Harry Potter»-Romane alle Generationen, dann waren es die liebeskranken Vampire aus «Twilight». Jetzt sind es Endzeitvisionen wie Suzanne Collins' «Die Tribute von Panem» Die sogenannte All Age-Literatur scheint eines der grossen Medienphänomene des 21. Jahrhunderts zu sein.
«All Age ist ein reines Marketinglabel.» Für Cornelia Schweizer, Inhaberin der Buchhandlung am Hottingerplatz in Zürich, ist der Fall klar. Seit Jahrzehnten erlebt die Buchhändlerin mit, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Lektüre auswählen. Sie weiss, dass Jugendliche schon immer Bücher gelesen haben, die eigentlich für Erwachsene bestimmt waren – und umgekehrt. Vor allem bei den Klassikern der Kinderliteratur war das so: Man denke nur an «Alice im Wunderland», «Pu der Bär» oder, immer noch ein Geheimtipp, Tove Janssons «Mumin»-Bücher.
Ingrid Tomkowiak sieht es ähnlich: Für die Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich ist All Age eine künstliche Kategorie – man könnte auch einfach nur von Literatur reden, ohne eine neue Schublade auf zumachen: «Der Begriff vernachlässigt die individuellen Lektürepräferenzen ebenso wie der Begriff Kinderliteratur. Nicht alle Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen sind jeweils gleich.»
Alter sei ein Konstrukt, das, ebenso wie Geschlecht, für den Buchhandel praktisch sei, mit der Realität von Lesern aber wenig zu tun habe: «Menschen mit viel Rezeptionserfahrung, egal ob Kinder oder Erwachsene, lesen anders als solche, die selten ein Buch in die Hand nehmen.»
Der Nachwuchs wollte wildere Bücher
Und doch steckt mehr hinter dem All Age-Phänomen. Neu ist nämlich, dass Erwachsene nicht nur ausgewählte Kinderbücher lesen, sondern Bücher für Jugendliche verschlingen. Gerade da war die Trennung im 20. Jahrhundert recht streng, weil Literatur für junge Leser in der Nachkriegszeit nicht in erster Linie nach literarischen, sondern nach didaktisch-pädagogischen Kriterien gestrickt war.
Der Übergang von Jugendbüchern zur Lektüre für Erwachsene gehörte deshalb lange zum Prozess des Erwachsen-Werdens: Irgendwann hatte der Nachwuchs genug und wollte wildere Bücher lesen, mit Sex drin und Gewalt und einem schonungslosen Zugang zu existentiellen Problemen. Genau das bieten All Age-Bücher.
Deshalb sind Genres wie Fantasy, Science Fiction und Thriller hier besonders gut vertreten, denn sie lassen ihre Leser tief eintauchen in eine andere Welt, greifen dabei die grossen philosophischen Fragen auf und gehen an die Grenzen: In der Fantasy geht es unter anderem um Gut und Böse, um Macht und die eigene Rolle im Weltgeschehen; die Science Fiction stellt im Kern die Frage, was der Mensch sei, und der Thriller leuchtet die Abgründe der menschlichen Seele aus.
Spirituelle Emotionalität ist erlaubt
Es gibt aber auch Bücher wie John Greens «Das Schicksal ist ein mieser Verräter» (die Verfilmung kommt demnächst in die Kinos), die sich vor allem durch das jugendliche Alter der Protagonisten von Belletristik für Erwachsene unterscheiden – und durch eine berührende Mischung aus tiefem Schmerz, Lebensfreude und Hoffnung.
Greens Roman erzählt die Geschichte zweier krebskranker Jugendlicher, die eine Liebe im Schatten des Todes erleben. Am Ende steht trotz allem nicht die Verzweiflung, sondern Zärtlichkeit und Hoffnung. Soviel spirituelle Emotionalität wäre in der anspruchsvollen Literatur für Erwachsene nicht erlaubt – och unter dem Label Jugend- oder eben All Age-Literatur geht das, die Kombination von literarischer Qualität und Lebenshilfe.
Die Thematik macht den Unterschied
Die Verlage haben diese Wünsche der Leser tatsächlich als Marktlücke erkannt und versuchen seit einigen Jahren, eigene All Age-Programme mit dem Zielpublikum ältere Jugendliche und junge Erwachsene auf die Beine zu stellen. Dazu gehören Script 5 beim Loewe-Verlag, FBJ bei S. Fischer und cbt bei Randomhouse.
Susanne Krebs, Programmleiterin des cbt-Verlags, sieht den Unterschied zwischen Erwachsenen- und All Age-Literatur vor allem bei der Thematik: «Unsere Bücher befassen sich mit den Themen, die in der Adoleszenz akut sind. Die erste Liebe gehört dazu, und natürlich die Frage ‹wer bin ich?›, verbunden mit der Ablösung von den Eltern.» Existentielle Themen also, die Jugendliche unmittelbar betreffen, mit dem Erwachsen-Werden aber noch lange nicht abgeschlossen sind.
Neue Möglichkeiten für die Literatur
Susanne Krebs ist es wichtig, dass Jugendliche sich erst genommen fühlen, dass sie, gerade in Thrillern, auch mit Gewalt konfrontiert werden. «Wie diese Gewalt dargestellt wird, ist jedoch ein Thema, über das wir beim Verlag viel nachdenken.» Wichtig sei ihr, dass am Ende ein Weg zurück ins Leben möglich sei. Was Sprache und Stil, Erzählperspektiven und Experimentierfreude angeht, würden sich All Age-Bücher aber nicht von Titeln für Erwachsene unterscheiden.
Mag All Age auch ein multimedialer Hype sein, so ist es alles in allem doch ein Phänomen, das neue Möglichkeiten eröffnet – für die Leser, aber auch für die Literatur.
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