«All Age ist ein reines Marketinglabel.» Für Cornelia Schweizer, Inhaberin der Buchhandlung am Hottingerplatz in Zürich, ist der Fall klar. Seit Jahrzehnten erlebt die Buchhändlerin mit, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Lektüre auswählen. Sie weiss, dass Jugendliche schon immer Bücher gelesen haben, die eigentlich für Erwachsene bestimmt waren – und umgekehrt. Vor allem bei den Klassikern der Kinderliteratur war das so: Man denke nur an «Alice im Wunderland», «Pu der Bär» oder, immer noch ein Geheimtipp, Tove Janssons «Mumin»-Bücher.
Eine Bezeichnung, die niemand braucht?
Links zum Thema
Ingrid Tomkowiak sieht es ähnlich: Für die Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich ist All Age eine künstliche Kategorie – man könnte auch einfach nur von Literatur reden, ohne eine neue Schublade auf zumachen: «Der Begriff vernachlässigt die individuellen Lektürepräferenzen ebenso wie der Begriff Kinderliteratur. Nicht alle Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen sind jeweils gleich.»
Alter sei ein Konstrukt, das, ebenso wie Geschlecht, für den Buchhandel praktisch sei, mit der Realität von Lesern aber wenig zu tun habe: «Menschen mit viel Rezeptionserfahrung, egal ob Kinder oder Erwachsene, lesen anders als solche, die selten ein Buch in die Hand nehmen.»
Der Nachwuchs wollte wildere Bücher
Und doch steckt mehr hinter dem All Age-Phänomen. Neu ist nämlich, dass Erwachsene nicht nur ausgewählte Kinderbücher lesen, sondern Bücher für Jugendliche verschlingen. Gerade da war die Trennung im 20. Jahrhundert recht streng, weil Literatur für junge Leser in der Nachkriegszeit nicht in erster Linie nach literarischen, sondern nach didaktisch-pädagogischen Kriterien gestrickt war.
Der Übergang von Jugendbüchern zur Lektüre für Erwachsene gehörte deshalb lange zum Prozess des Erwachsen-Werdens: Irgendwann hatte der Nachwuchs genug und wollte wildere Bücher lesen, mit Sex drin und Gewalt und einem schonungslosen Zugang zu existentiellen Problemen. Genau das bieten All Age-Bücher.
Deshalb sind Genres wie Fantasy, Science Fiction und Thriller hier besonders gut vertreten, denn sie lassen ihre Leser tief eintauchen in eine andere Welt, greifen dabei die grossen philosophischen Fragen auf und gehen an die Grenzen: In der Fantasy geht es unter anderem um Gut und Böse, um Macht und die eigene Rolle im Weltgeschehen; die Science Fiction stellt im Kern die Frage, was der Mensch sei, und der Thriller leuchtet die Abgründe der menschlichen Seele aus.
Spirituelle Emotionalität ist erlaubt
Es gibt aber auch Bücher wie John Greens «Das Schicksal ist ein mieser Verräter» (die Verfilmung kommt demnächst in die Kinos), die sich vor allem durch das jugendliche Alter der Protagonisten von Belletristik für Erwachsene unterscheiden – und durch eine berührende Mischung aus tiefem Schmerz, Lebensfreude und Hoffnung.
Greens Roman erzählt die Geschichte zweier krebskranker Jugendlicher, die eine Liebe im Schatten des Todes erleben. Am Ende steht trotz allem nicht die Verzweiflung, sondern Zärtlichkeit und Hoffnung. Soviel spirituelle Emotionalität wäre in der anspruchsvollen Literatur für Erwachsene nicht erlaubt – och unter dem Label Jugend- oder eben All Age-Literatur geht das, die Kombination von literarischer Qualität und Lebenshilfe.
Die Thematik macht den Unterschied
Die Verlage haben diese Wünsche der Leser tatsächlich als Marktlücke erkannt und versuchen seit einigen Jahren, eigene All Age-Programme mit dem Zielpublikum ältere Jugendliche und junge Erwachsene auf die Beine zu stellen. Dazu gehören Script 5 beim Loewe-Verlag, FBJ bei S. Fischer und cbt bei Randomhouse.
Susanne Krebs, Programmleiterin des cbt-Verlags, sieht den Unterschied zwischen Erwachsenen- und All Age-Literatur vor allem bei der Thematik: «Unsere Bücher befassen sich mit den Themen, die in der Adoleszenz akut sind. Die erste Liebe gehört dazu, und natürlich die Frage ‹wer bin ich?›, verbunden mit der Ablösung von den Eltern.» Existentielle Themen also, die Jugendliche unmittelbar betreffen, mit dem Erwachsen-Werden aber noch lange nicht abgeschlossen sind.
Neue Möglichkeiten für die Literatur
Susanne Krebs ist es wichtig, dass Jugendliche sich erst genommen fühlen, dass sie, gerade in Thrillern, auch mit Gewalt konfrontiert werden. «Wie diese Gewalt dargestellt wird, ist jedoch ein Thema, über das wir beim Verlag viel nachdenken.» Wichtig sei ihr, dass am Ende ein Weg zurück ins Leben möglich sei. Was Sprache und Stil, Erzählperspektiven und Experimentierfreude angeht, würden sich All Age-Bücher aber nicht von Titeln für Erwachsene unterscheiden.
Mag All Age auch ein multimedialer Hype sein, so ist es alles in allem doch ein Phänomen, das neue Möglichkeiten eröffnet – für die Leser, aber auch für die Literatur.
Umfrage an den Solothurner Literaturtagen:
Welches Buch aus Ihrer Jugend hat Ihre Lesebiografie geprägt?
-
Bild 1 von 18. Peter Bichsel, Autor: «Ich las schon früh sehr viel. Aber ganz bestimmt keine Kinderbücher. Ein prägendes Buch? Das wäre, wie wenn Sie einen Alkoholiker fragen würden, mit welchem Wein er zum Alkoholiker geworden ist. Nicht durch den Inhalt wird man zum Leser, sondern durch die Leidenschaft für die Buchstaben.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 2 von 18. Nora Gomringer, Lyrikerin: «In Solothurn werde ich immer daran erinnert, dass ich mit Peter Bichsels ‹Kindergeschichten› zum Lesen kam. Ich war da vielleicht acht oder neun, und es waren eigentliche ‹Initial-Narrationen›: Sie machten mir überhaupt erst klar, dass ich vielleicht in diese Welt des Schreibens hingehören könnte.». Bildquelle: SRF/ Matthias Willi.
-
Bild 3 von 18. Heinz D. Heisl, Autor und Musiker: «‹Aufzeichnungen eines Aussenseiters› von Charles Bukowski. Bereits die erste Seite war Hammer. Es hat mich fasziniert – was genau, kann man hier nicht erzählen...». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 4 von 18. Annette Schmucki, Komponistin: «Ich weigerte mich zu lesen, bis ich zwölf war – obwohl ich aus einem sehr literarischen Haus kam. Eines Tages fischte ich dann ein Buch von Wolfgang Borchert aus dem Gestell meines Vaters – danach habe ich gleich sein Gesamtwerk verschlugen. Ja, durch Borchert fand ich erst zum Lesen.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 5 von 18. Lukas Bärfuss, Autor: «Ein Büezer schenkte mir als Jugendlicher ein 25-bändiges Lexikon. Damit verbrachte ich grosse Teile meiner Freizeit. Lesen bedeutete für mich lernen. Später las ich Robert Walsers ‹Die Räuber›. Darin wendet er sich explizit gegen Leser, die aus den Büchern lernen wollen – ein Schock. Ich musste danach neu lesen lernen.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 6 von 18. Eva Kasser (links): «Bernhard Schlinks ‹Der Vorleser› – wegen der Geschichte, aber auch, weil ich ihn an den Solothurner Literaturtagen traf. Da war ich 16 und machte fast in die Hose.» Melanie Jost: «Ich gehöre zur Generation ‹Harry Potter›. Ich tauchte voll in die Welt ein – und habe sogar Zauberstäbe gebastelt und einen Kräutergarten angelegt.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 7 von 18. Boni Koller, Sänger von Baby Jail: «Fasziniert hat mich ‹Die Schatzinsel› von Robert Louis Stevenson. Eine wahnsinnige Geschichte mit starken Figuren. Long John Silver etwa: eine Figur, die weder wirklich böse noch wirklich gut ist. Das macht einen fertig.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 8 von 18. Klaus Merz, Autor: «Lyriker wie Paul Celan oder Günther Eich prägten mich. Aber erst durch den Prager Autor Bohumil Hrabal habe ich eine neuen Zugang zur Literatur entdeckt: Er schreibt lebenssatt, lüpfig und augenzwinkernd – ich selbst eher lakonisch. Hrabal hat mir einen ‹Schupf› gegeben, so dass es eine poetische Lakonie geworden ist.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 9 von 18. Mirjam Freudiger, Angestellte am Glacestand: «Was mich prägte? Geschichten mit Hexen und Monstern. Und ‹Der Regenbogenfisch›. Es war eines der ersten Bücher, das ich besass, ein schönes Buch. Später kamen Krimis und die typischen Frauenbücher dazu. ‹Twilight› dagegen ist gar nicht meins – das ist mir dann doch zu klischeehaft.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 10 von 18. Hans Stöckli, Ständerat: «Eine knifflige Frage. Ein Buch aus in meiner Jugendzeit kommt mir keines in den Sinn. Was mich allerdings beeindruckte, war ‹Alles hat seine Stunde› vom Bieler Autor Urs Karpf. Es ist eine Art ‹Buddenbrooks› von Biel. Als damaliger Stadtpräsident von Biel musste ich es zwangsweise lesen – und war sofort davon begeistert.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 11 von 18. Remo Rickenbacher, am Stand von «der gesunde Menschenversand»: «‹Herr der Ringe› war das erste Buch, das mir den Ärmel reingenommen hat. Ein Freund hat mir auf einer Wanderung von dieser Fantasiewelt erzählt. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen, ich kannte diese Art des Fabulierens bisher nicht. Umso mehr hat es mich dann beim Lesen gepackt.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 12 von 18. Katja Alves, Jugendbuchautorin: «Ich wuchs bei meiner Grossmutter auf: Sie hatte wenig Kinderbücher, dafür alte Damenromane wie Biografien von römischen Kaiser. Diese haben mir sehr gefallen, denn darin kam alles vor, was man als Kind sonst nicht lesen darf: Mord, Totschlag und Intrigen.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 13 von 18. Joshua Muhl: «Für mich war es eindeutig Karl May: ‹Winnetou› eins bis drei und noch ein paar mehr. Ich habe diese Bücher wirklich auch gelebt: Mein Grossvater hat mir ein Gewehr gebastelt, das wie jenes von Winnetou aussah. Draussen habe ich diese Geschichten dann nachgespielt.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 14 von 18. Raphael Urweider, Autor: «Das wichtigste Buch war für mich ‹Das Suchen nach dem gestrigen Tag oder Schnee auf einem heissen Brot wecken› von Hans Carl Artmann. Bei diesem Buch hatte ich zum ersten Mal das Gefühl: So schreiben können möchte ich auch. Ich merkte, dass Sprache auch Material ist – und Schreiben heisst, sich treiben zu lassen.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 15 von 18. Nicole Murbach: «‹Die Judenbuche› von Annette von Droste-Hülshoff. Es war das erste Buch, in dem ich – dank Unterstützung von Sekundärliteratur und der Lehrerin – viel mehr entdeckte als in bisherigen Büchern.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 16 von 18. Adrian Hummel: «‹Papillon› von Henri Charrière, ein populärer Abenteuerroman. Vorher las ich eher sprachlich hochtrabende Bücher – mit ‹Papillon› realisierte ich: Schreiben könnte ich ja selbst einmal probieren.». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 17 von 18. Anonym: «‹Der rote Seidenschal›? Nun, das Buch finde ich heute nicht mehr gut … Richtig zu lesen begann ich im Gymnasium – mit Peter Bichsel. Bereits 1965, als Bichsel ganz neu war, brachte unser Lehrer ‹Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen› in den Unterricht. Damit fand ich zur Literatur – und später zum Literaturstudium.» . Bildquelle: SRF/Matthias Willi.
-
Bild 18 von 18. Sebastian Äschlimann: «Ich lese vor allem für die Schule. Nur bei ‹Emil und die Detektive› von Erich Kästner war es anders: Ich bekam es geschenkt und las es in meiner Freizeit. Konnte mich sehr mit den Buben im Roman identifizieren. Aber zum Freizeitleser wurde ich dadurch nicht …». Bildquelle: SRF/Matthias Willi.