Das schmale Büchlein von Anna Felder umfasst gut zwei Dutzend literarische Skizzen aus dem Alltag. Dabei stimmt alles: die Stoffe, die Sprache, der Rhythmus, der Klang. Die Schilderung der 80-jährigen Tessiner Autorin konzentriert sich auf das Wesentliche und kondensiert die innerste Essenz.
Das Erzählen zwischen den Wörtern
Etwa wenn es in einer an sich lapidaren Episode um ein keifendes Ehepaar geht. Da ist nichts Geschwätziges. Kein Wort zu viel. Das Meiste bleibt ungesagt. Im Wenigen aber, das man erfährt, erschliesst sich die ganze Vertracktheit einer Ehe, die in die Jahre gekommen ist.
Eine andere Erzählung handelt von einer älteren Dame, die alleine im Café sitzt. Ihr einziger Tischgenosse ist ein Motorradhelm auf einem der freien Stühle. Ein Gast nebenan hat ihn achtlos dort deponiert.
Das Bild der Einsamkeit der Dame ist stark. Dennoch kommt keine Wehleidigkeit auf. Die Frau hat den Helm. Ihm haucht sie Leben ein, kraft ihrer Fantasie.
Perspektivwechsel
Felders Perspektivwechsel sind oft unerwartet. Einmal ist es gar eine Eisenbahn, die erzählt: von den Passagieren, die sie mit ratternden Rädern durch die Gegend fährt.
Von der Signora, die betet. Vom Pendler, der sich strategisch günstig in Position bringt, um sich unauffällig nach dem weiblichen Geschlecht umsehen zu können.
Von Schlafenden. Von Kindern, die laut lachen mit vollem Mund. Eine Frau steigt ein. In den Armen ein riesiger Blumenstrauss.
Der Zauber des Alltäglichen
Anna Felder haucht dem unscheinbar Alltäglichen einen mystischen Zauber ein. Er ist getränkt von der Liebe zum Leben. Es ist aber eine Liebe, die keine Behaglichkeit zulässt und schon gar keine Sentimentalität. Vielmehr bricht immer wieder das Unvorhergesehene ein. Es bringt falsche Erwartungen durcheinander.
Anna Felder ist eine Grenzgängerin. Sie wurde in Lugano geboren, lebt jedoch schon über ein halbes Jahrhundert in der Deutschschweiz. Sie schreibt Italienisch. Die meisten ihrer Werke wurden ins Deutsche übersetzt.
Bis heute reist sie immer wieder hin und her, zwischen der Deutsch- und der italienischsprachigen Schweiz. Die langen Bahnfahrten bieten der Autorin Inspiration für ihre Erzählungen. Manch eine Episode in «Circolare» scheint die scharf beobachtende Autorin in einem Zugabteil erlebt zu haben.
Das Gebären der Sprache
Anna Felder ist nach eigenen Angaben eine langsame Schreiberin. Anders wäre die Entstehung dieser ebenso dichten wie leichtfüssigen literarischen Miniaturen auch gar nicht denkbar.
Man spürt beim Lesen die achtsame Komponistin im Hintergrund, die kühl beobachtet und danach sorgsam abwägend Wort um Wort aufs Papier bringt, die Musikalität des Sprachflusses überprüfend.
Diese ist elementar für Anna Felders Romane, Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke – für ihr Lebenswerk, für das sie Anfang Jahr den renommiertesten Schweizer Literaturpreis erhielt: den «Grand Prix Literatur».