SRF: In Ihrem aktuellen Essay thematisieren Sie die Zumutungen aber auch die Chancen, die Flüchtlinge erleben, die es nach Europa geschafft haben. Wie sehr nährt sich dieser Stoff an Ihrer eigenen Biographie?
Ilija Trojanow: Ich bin selbst als Kind mit meiner Familie aus Bulgarien nach Deutschland geflohen. Aber ich habe jahrelang gar nicht gemerkt, wie sehr mich dies eigentlich geprägt hat. Erst mit der Arbeit an diesem Essay wurde mir klar, wie sehr die Thematik unbewusst immer schon ein zentrales Thema meines Lebens gewesen ist.
Im Essay schreiben Sie, dass nichts an der Flucht flüchtig sei. Was heisst das konkret?
Ein Flüchtling kann nicht in die Zeit vor der Flucht zurück. Vor der Flucht war ihm klar, wo er hingehört. Nach der Flucht muss man sich am neuen Ort zurechtfinden, die Sprache lernen, neue Kontakte knüpfen. Dabei verändert man sich.
Irgendwann ist eine Rückkehr ins alte Leben – auch wenn sie politisch möglich wäre – nicht mehr realistisch. Sie wäre eigentlich eine «Fremdkehr», denn man ist dem einst Vertrauten längst entwachsen. Es ist seinerseits zur Fremde geworden.
Das heisst, Flüchtlinge sind heimatlos?
Heimat ist in erster Linie etwas sehr Persönliches und Intimes: die Menschen, die man liebt, die Musik, die Gerüche und die Erinnerungen. Sie begleiten einen Menschen ein Leben lang, unabhängig vom Wohnort.
Sie haben nach Ihrer Flucht aus Bulgarien zuerst in Deutschland gelebt, dann in Nairobi, später in Paris, München, Mumbai, Kapstadt. Heute leben Sie in Wien. Was verleiht denn Ihnen das Gefühl der Heimat?
Ich habe die schönste Heimat, die es gibt: die Sprache. Damit meine ich meine Mehrsprachigkeit, die ich aufgrund meiner Biographie erworben habe, und die eine Art eigene Sprache ergibt.
Die Heimat als Nation zu definieren, ist eine gefährliche Verkürzung.
Die Heimat hat für Sie also nichts mit dem Nationalstaat zu tun, in dem man geboren wurde?
Nein, die Heimat als Nation zu definieren, ist eine gefährliche Verkürzung: Der Nationalist kann sich selbst nur in Abgrenzung von anderen definieren. Den Anderen als Anderen – und nicht als Mitmensch – wahrzunehmen, ist aber der Beginn der Gewalt.
Für wie gefährlich halten Sie denn die aktuelle Weltlage, wo populistische Kräfte erstarken, die dem Nationalismus das Wort reden?
Das Gefährliche an der Situation heute ist, dass Nationalisten dem Anderen nicht direkt begegnen wollen. Man schiebt ihn weg. Anstatt Empathie zu entwickeln, wird der Andere zum Objekt und damit zum Opfer von Unterstellungen und Dämonisierungen. Zu was dies führt, haben wir in der Geschichte leider nur schon zu oft erlebt.
In Ihrem Essay erklären Sie, dass die Menschheit grosse Probleme wie die drohende Klimakatastrophe oder den Hunger nur gemeinsam lösen könne. Und dabei könnten Flüchtlinge eine wichtige Rolle einnehmen. Wie meinen Sie das?
Einer der grossen Irrtümer der aktuellen Integrationsdebatte besteht darin, dass stets behauptet wird, die Flüchtlinge seien einseitig die Lernenden: Sie müssten die hiesigen Gesetze und Bräuche adaptieren. Man behauptet stillschweigend, sesshaft zu sein, sei die richtige Lebensform.
Viel weniger fragt man, was man eigentlich von Migrantinnen und Migranten lernen kann. Was ist ihr Blick auf die Welt? Viele haben aufgrund der leidvollen Erfahrung der Flucht Fertigkeiten ausgeprägt, die sie Sesshaften voraushaben.
Flüchtlinge finden sich oft in unterschiedlichsten kulturellen Räumen zurecht, beherrschen nicht selten verschiedene Sprachen und haben dadurch auch häufig ein überdurchschnittliches Flair, Empathie zu entwickeln. Und genau auf sie kommt es an: Jede Problemlösung beginnt damit, dass man sich ineinander hineinversetzt.
Das Gespräch führte Felix Münger.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 26.5.17, 6:50 Uhr.