Eckhart Nickel lässt in seinem Roman grundverschiedene Welten aufeinandertreffen: die Gegenwartswelt dreier Jugendlicher und eine künstliche Fantasiewelt des 19. Jahrhunderts.
In der realen Welt wollen sich die drei an ihrer Kunstlehrerin rächen, die über ein minutiös angefertigtes Selbstporträt von Kirsten, einer von ihnen, nur mit einem lapidaren «Respekt! Mut zur Hässlichkeit» reagierte.
Drei Teenager und eine Parallelwelt
Carl, der Zweite im Bund und exzentrischer Neuling in der Klasse, zieht Kirsten und den namenlosen Ich-Erzähler des Romans von Anfang an in seinen Bann. Er redet nicht wie alle anderen, sondern drückt sich stets äusserst gewählt, fast schon gekünstelt aus.
Nicht nur damit beeindruckt er Kirsten und den Erzähler – sie stellen fest, dass er sein Leben lieber in eine Parallelwelt versetzt, in der er überall Bezüge zur Kunst der Romantik und des Biedermeiers herstellt. Davon sind sie sofort auch fasziniert.
Das Resultat sind 265 Seiten voll von teilweise grossartig aufgeblasen formulierten Dialogen zwischen den Dreien, hinter denen trotzdem stets die unsicheren Teenager sichtbar bleiben, die vor allem auch auf der Suche nach sich selbst sind, und die auch nicht ganz aus der Gegenwart wegkommen.
Realitätsflucht, Rache und Romanze
Auch sie benutzen beispielsweise den Ausdruck «OMG» – nur chiffrieren sie ihn in ihrer kultivierten (und herrlich kindischen) Geheimsprache als «Onsen Milch Gras».
Doch für die drei Jugendlichen ist ihre künstliche Fantasiewelt nicht nur ein Ort, an dem sie der Realität entfliehen. Sie dient ihnen auch als Waffe im Racheplan gegen die ungeliebte Kunstlehrerin – und dazu, ihr eigenes Leben und ihre eigenen Gefühle besser einordnen zu können.
Zwischen dem Erzähler, Kirsten und Carl entsteht ein zaghaftes, platonisches Liebesdreieck. Was andere Teenager in Liebeskummer stürzen würde, verarbeiten die drei ganz anders: Sie erkennen sich selbst in Philipp Otto Runges Zeichnung «Wir drei» und sinnieren statt ihrem eigenen über das Verhältnis jener drei Figuren auf der Zeichnung.
Zurück zur Retro-Ästhetik
«Spitzweg» ist eine Hymne an die Ästhetik vergangener Zeiten. Damit trifft Eckhart Nickel einen Nerv der Zeit – man denke nur an die verschiedensten Fernsehserien, die zurzeit erfolgreich auf der Retro-Welle surfen, von Kostümserien wie «Downton Abbey» oder «Bridgerton» über «Peaky Blinders» bis hin zu «Stranger Things». Sie alle feiern eine Ästhetik von früher.
Für Eckhart Nickel ist das nicht erstaunlich: «Es gibt zwei Arten, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen: Die eine ist, sich in die Gegenwart zu stürzen und die andere, die Gegenwart tunlichst zu meiden.»
Dass Retro-Ästhetik so grossen Erfolg hat, hängt laut Eckhart Nickel damit zusammen, dass es in der Gegenwart immer weniger Möglichkeiten gibt, durch Extreme anzuecken. «Früher erregte man mit einer Punk-Frisur noch Anstoss, doch heute leben wir in einer Zeit des ‹anything goes›. Dadurch sind viele Möglichkeiten verloren gegangen, sich gegen diese Zeit zu profilieren. Eine Möglichkeit ist aber, sich auf die grossartigen stilistischen Formen der Vergangenheit zu berufen.» Das sei mehr als pure Nostalgie.
Mit anderen Worten: Eckhart Nickel sieht die Popkultur der Zukunft schon in der Kunst von vorgestern angelegt. Wie gewinnbringend das sein kann, beweist er auf höchst unterhaltsame Weise in seinem neuen Roman. Fast beiläufig wirft das Buch auch noch kluge Fragen und Reflexionen darüber auf, was für eine Rolle die Kunst ganz allgemein in unserem Leben spielen könnte.