Die moderne Frau ist selbstbestimmt, unabhängig, frei von Rollenzuschreibungen und so weiter. Oder? Na ja, Hand aufs Herz: Wer wäscht die Wäsche? Wer kocht? Wer macht die Urlaubsplanung? Wer pflegt die Freundschaften in einer Beziehung?
Hartnäckige Frauenfiguren
Im Buch «Süss. Eine feministische Kritik» beschreibt die deutsche Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Ann-Kristin Tlusty die vielen gesellschaftlichen und persönlichen Zwänge, die Frauen noch heute prägen.
Sie zeigt drei Frauenfiguren, die sich bis in unsere Gegenwart gehalten haben: die süsse, die sanfte und die zarte Frau. Figuren, in denen man sich auch als moderne Frau erschreckenderweise oft wiederfindet.
Die sanfte Frau: Kinder, Küche, Kranke
Die sanfte Frauenfigur verschreibt sich dem Leid, den Sorgen, der Erschöpfung dieser Welt. Sie erfüllt die Bedürfnisse der anderen, Stichwort «Kinder, Küche, Kranke».
Der Begriff des «Mental Load» bezeichnet den Ballast an Gedanken, den Frauen mit sich herumtragen, wenn sie glauben, sie müssten immer auch für alle anderen um sich herum mitdenken.
Die süsse Frau: sexuell verfügbar
Die süsse Frauenfigur bezieht sich auf den sexualpolitischen Aspekt. Darunter fallen Frauen, die als sexuell verfügbar wahrgenommen werden – entweder als Objekt oder sogar als Akteurin.
Die süsse Frau knüpft an die Stichworte «Sexpositivity» und «Orgasmuspflicht» an. Es geht um die Reduzierung auf ihre Verfügbarkeit.
Die zarte Frau: unschuldig und abhängig
Die zarte Frauenfigur wirkt unschuldig, harmlos, zerbrechlich und vor allem abhängig, Stichwort «femme fragile».
Mit diesem Typus zeigt Ann-Kristin Tlusty auf, wie in vielen Lebenszusammenhängen immer noch ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass Frauen weniger mündig und selbständig seien.
Erkennen Sie sich irgendwo wieder?
Sanft, süss, zart: Diese drei Figuren entwickelt Tlusty, indem sie sehr differenziert und präzise historische Linien zieht.
Sie verweist auf eigene Beobachtungen aus dem Freundeskreis, lässt geisteswissenschaftliche und literarische Werke, Beispiele aus der Popkultur, aus Filmen und Serien einfliessen und führt sie zusammen. Die Reduzierung von Autorinnen in der Literaturkritik auf sinnliche Lippen und grosse Rehaugen sei ein Beispiel.
Aufwerten statt ausmerzen
All diese Attribute seien immer noch institutionalisiert, sagt Ann-Kristin Tlusty im Gespräch. «Insofern gibt es zwar einen individuellen Handlungsspielraum, wie man sich verhält – aber diese Rollen erfüllen gleichermassen eine gesellschaftliche Funktion, der man sich als Frau nur schwer entziehen kann. Es sind sanfte gesellschaftliche Zwänge, die Frauen in diese Rollen locken.»
Ihr geht es nicht darum, diese Rollen auszumerzen. Sondern darum, bestehende Missstände zu überwinden: «Ich setze mich in meinem Buch dafür ein, dass wir die Attribute sanft, süss und zart – auch wenn sie derzeit nur für einen Teil der Gesellschaft gelten – eher aufwerten», so die Autorin. «Es wäre doch schön, wenn alle Menschen sanft und zart und vielleicht auch etwas süsslich sein könnten.»
«Süss» ist ein scharfsinniges und erhellendes Plädoyer dafür, dass wir nicht nur individuell die eingefahrenen Strukturen zu überwinden versuchen, sondern nach gemeinsamen gesellschaftlichen Lösungen suchen sollten.